Reeperbahn-Überwachung: Videoaugen abgeschaltet
Die Polizei stellt die ständige Videoüberwachung der Reeperbahn ein. Die Auflagen der Gerichte waren so hoch, dass sich der Aufwand nicht mehr gelohnt hätte.
![](https://taz.de/picture/258463/14/c_reeperbahn_DPA.jpg)
Die Videoüberwachung der Reeperbahn ist beendet. Am Freitagmittag um 14 Uhr schalteten Beamte im Polizeipräsidium die Bildschirmwand ab, die von zwölf Kameras mit Bildern beliefert und von 14 Beamten rund um die Uhr beobachtet wurde. Auf dem Kiez neigten sich die Videoaugen in Richtung Fußboden, um die Funktionslosigkeit zu demonstrieren: "Aufwand und Nutzen hielten sich nicht mehr die Waage", sagt Polizeisprecherin Ulrike Sweden. "Da hat der Senator die Abschaltung angeordnet." Es sei durch die gerichtliche Vorgaben notwendig geworden "technische Veränderungen vorzunehmen", so Sweden, die sich als "nicht effizient" erwiesen hätten.
In der Tat ist der Rückzug aus der umstrittenen Videoüberwachung vor allem dem Urteil des Hanseatischen Oberverwaltungsgerichts (OVG) vom 22. Juni vorigen Jahres geschuldet, dem ein jahrelanger Rechtsstreit voranging. Die Reeperbahn-Bewohnerin Alja R. hatte gegen die Installierung der Videoaugen im April 2006 geklagt, die der damalige Innensenator Udo Nagel (parteilos) zur Gefahrenabwehr angeordnet hatte. Denn ein Videoauge konnte direkt in Alja R.s Wohnzimmer im 2. Stock gucken.
Während das Verwaltungsgericht der Polizei nur das Filmen ins Wohnzimmer untersagte, was durch eine digitale und mechanische Sichtblende vermieden werden konnte, hatte das OVG entschieden, dass außer Wohnhausfassaden auch sämtliche Kneipen- und Ladentüren sowie Treppenhaus-Eingänge nicht beobachtet werden dürfen.
"Gerade in Hauseingängen lassen sich Bewegungs- und Kontaktprofile erstellen", hatte der Vorsitzende Richter Joachim Pradel das Verbot begründet - und generelle Zweifel an der Maßnahme angemeldet. "Die Hoffnung, dass durch Videoüberwachung die Zahl der Straftaten sinkt, hat sich nicht bewahrheitet", so sein Resümee. Dennoch gestattete das OVG der Polizei grundsätzlich die Observation der "sündigen Meile".
Obwohl gegen das Urteil keine Revision zugelassen war, hatte Alja R.s Anwalt Dirk Audörsch Rechtsmittel beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig eingelegt: Die Videoüberwachung sei ein direkter Eingriff in die Grundrechte aller BesucherInnen, die sich frei im öffentlichen Raum Reeperbahn bewegten.
Seit April 2006 ist die Reeperbahn videoüberwacht gewesen. Datenschützer hatten die Videoüberwachung als rechtswidrigen Eingriff in die Bürgerechte kritisiert.
Zwölf Kameras mit um 360 Grad schwenkbaren Zoom-Objektiven filmten Tag und Nacht das Geschehen auf der Rotlichtmeile.
Das kriminologische Institut der Uni Hamburg kam 2007 zu dem Schluss, dass die Überwachung der Reeperbahn das Sicherheitsgefühl der Bürger nicht stärkt.
Eine Wirksamkeitsanalyse des schwarz-grünen Senats im Juli 2010 ergab, dass in den ersten drei Jahren der Videoüberwachung die Kriminalitätszahlen um 32 Prozent angestiegen sind, Körperverletzungsdelikte von 2006 bis 2009 sogar um 75 Prozent.
Das Gericht ließ im April dieses Jahres die Revision zu, da das Verfahren von "grundsätzlicher Bedeutung" für die Fragen sein könne, "ob die offene Bildaufzeichnung im öffentlichen Raum zum Zwecke der Strafverfolgungsvorsorge" auf ein Landespolizeigesetz gestützt werden dürfe und "welche verfassungsrechtlichen Anforderungen zu stellen" seien.
Während der CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Kai Voet van Vormizeele die Weisung von Innensenator Michael Neumann (SPD) zur Abschaltung des Videosystems kritisiert, weil nun "ohne Not ein wichtiger Baustein der erfolgreichen Kriminalitätsbekämpfung fehlt", begrüßten der FDP-Datenschutz-Experte Finn Ole Richter und der SPD-Abgeordnete Arno Münster die Entscheidung. "Polizisten müssten dort eingesetzt werden, wo sie am besten die innere Sicherheit stärken könnten", sagte Münster, "vor verpixelten Bildschirmen ist das nicht der Fall."
Die innenpolitische Expertin der GAL-Fraktion, Antje Möller, freut sich, dass nun der "Eingriff in die Bürgerrechte" beendet sei. Die Überwachung habe "präventiv ohnehin nichts bewirkt".
Die Linkspartei-Abgeordnete Christiane Schneider zollte Neumann für den "überraschenden Schritt" Respekt. "Die Videoüberwachung hatte präventiv keinen praktischen Effekt", so Schneider, und für Strafverfolgungsmaßnahmen habe der Senat "keine Gesetzeskompetenz".
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