Realpolitik und Dadaismus : Die Kulturpartei will ins Parlament
Laut dem Landesvorsitzenden leiden Kulturmenschen besonders an Atomkraftwerken, Intoleranz und der Sparpolitik
Im Hinterzimmer der Z-Bar in Mitte geht es zu wie auf dem Jahreskongress der Dadaisten. An dem erhöhten Tisch auf der Stirnseite sitzen zwei sich phänotypisch stark ähnelnde Zweimetermänner mit Boheme-Fransen über dem schwarzen Hemdkragen, daneben ein Kleinerer mit Laptop. Einer der Großen nimmt einen tiefen Schluck aus dem Rotweinglas, ermuntert das Publikum zum Gemüseweitwurf und hebt dann zu einer Rede über „Leben im Kultursinn – Sinnstiftung als Tiefensport“ an.
15 Mitglieder der seit März beim Landeswahlleiter registrierten Kulturpartei verteilen sich auf die Klappstuhlreihen des kleinen Saals. Mit großem Ernst verfolgen sie die Grundsatzrede ihres Landesvorsitzenden Tom de Toys zum ersten Bundesparteitag, der gleichzeitig Parteitag des Berliner Landesverbands ist. Dass die Bundesebene nur durch eine Dame aus Potsdam vertreten ist, tut der feierlichen Stimmung keinen Abbruch.
Der Vorsitzende im schlotternden grauen Anzug bringt in einem rhetorischen Parforceritt die komplizierte Gefühlslage seiner Parteigenossen zum Ausdruck. Die Kulturmenschen sind unzufrieden, sie fühlen sich wie Statisten in einer überteuerten Soap. Besonders leiden sie an Atomkraftwerken, Ressourcenverschwendung, Intoleranz und, na klar, der Sparpolitik. Kulturpessimisten sind sie auch: „Wir schieben den Koloss unserer kranken Kultur immer weiter auf den schleichenden Abgrund zu, als ob wir von einer heimlichen Todessehnsucht hypnotisiert wären“, donnert der Vorsitzende. Erst nach ein paar weiteren Schlucken Rotweinglas findet er zu poetischeren Tönen: „Wer die Stimmen im Unterholz des Volkes hören will, muss nur den Waldspaziergang bei Vollmond wagen.“ Die Genossen klatschen ergriffen, Lutz mit der Hornbrille hat sich Notizen gemacht.
Nach der Poesie geht es hinab in die Niederungen der Realpolitik. Mit dem Berliner Landesvorsitzenden de Toys und dem Bundesvorsitzenden Malte Brandts sind schnell zwei Tagungsleiter gefunden, das Protokoll übernimmt die Medizinerin Luni, die aber nicht auf dem Laptop schreiben will. „Mit der Hand bin ich schneller.“ Geschäftsleiter Wolfgang Karfus kann nur mit Mühe davon abgehalten werden, zum Copyshop zu flitzen, um Pressemitteilungen auszudrucken.
Zwei Anwesende werden noch im Schnellverfahren in die Partei aufgenommen, dann beginnt eine hingebungsvolle Diskussion über die Parteisatzung: Soll man sich jetzt schon festlegen, in welchen Bezirken man für die Bezirksverordnetenversammlung antreten möchte? (Nein) Ist 1 Euro Mindestmitgliedsbeitrag für alle vertretbar? (Ja) Alle seufzen auf: Das mit der Satzungsänderung ist erledigt.
Schwieriger ist es schon mit der Jugend. Die Zukunft der Partei ist auf Schulen und Universitäten zu finden, da ist man sich einig. Doch wie gibt man der jungen Generation angemessenen Raum? Sollen auch 14-Jährige schon aktiv sein dürfen? Braucht man eine eigene Jugendorganisation? Und wie sollen die dann heißen? „Kultis“, scherzt die Protokollführerin und fordert gleich noch eine eigene Hochschulgruppe und BaFöG für alle. Auch für ausländische Studierende? Die Parteidisziplin ist in Gefahr, Protokollführerin, Landesvorsitzender und ganz Potsdam verstricken sich in eine Diskussion über elternunabhängiges BaFöG und Studiengebühren. Der Geschäftsleiter will endlich zu Punkt 6 der Tagesordnung kommen, dem Stand der Unterschriftensammlung – schließlich muss die Partei 2.200 Unterstützungsunterschriften vorweisen können, um im Herbst bei der Abgeordnetenhauswahl antreten zu können. Doch Formalia kommen gegen die Debatte nicht an, die sich mittlerweile ins Allgemeine verlagert hat.
Der Landesvorsitzende verlässt den Raum, um mehr Rotwein zu holen. Eigentlich, erzählt er, sei er Künstler, wie der Bundesvorsitzende Malte Brandts. Der habe die Parteigründung als Performance bei einer Ausstellung gezeigt. „Man unterschrieb ein Formular, anschließend öffnete man ein Schränkchen mit der Aufschrift ‚Kulturpartei‘ “, erzählt De Toys. „Dann blickte man in einen Spiegel.“ Dadaismus und Realpolitik sind manchmal nur einen Wimpernschlag voneinander entfernt. Nina Apin