■ Reaktion auf Herzogs Rede zeigt Sehnsucht nach Führung: Staatskindliche Sentimentalitäten
Welch unerfreuliche Überraschung: Allein Heiner Geißler schien noch bei Verstand, als er die Rede von Bundespräsident Roman Herzog kommentieren sollte. Nur ihm schienen die Worte des höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik nicht derart zu Kopf gestiegen zu sein, als habe endlich einer mal die richtige Melodie vorgeflötet, auf daß alle Staatskinder folgen. Anlaß zur Panik sehe er keinen, teilte er im Gespräch mit der Berliner Morgenpost mit.
Auch die Rede vom Reformstau mochte er nicht teilen, ebensowenig die von der Blockade, in der dieses Land angeblich stecke und sich dadurch lähme. Wie aus dem Lehrbuch für angewandte Demokratie teilte Heiner Geißler mit: „Politik besteht nun einmal aus Konflikt und Auseinandersetzung.“ Und, befragt nach der Stimmung im Lande: „Da helfen keine Beschwörungen.“
Das überwiegende Gros der Reaktionen auf Herzogs Befindlichkeiten läßt nur den Schluß zu, daß momentan der Wunsch nach autoritären Lösungen stark ist. Die Augsburger Allgemeine fürchtet, daß die Rede des Bundespräsidenten vom „grauen Bonner Alltag“ absorbiert werde. Und die Hamburger Morgenpost fleht pubertär: „Schön wäre es, wenn hierzulande mal etwas in die Gänge käme.“ Die Bild applaudiert wie gewohnt in der Rolle des Rekruten, der den Tadel seines Feldwebels sehnlich empfängt, daß Herzog uns mal den „Marsch geblasen“ hat.
Allgemeiner Tenor: Das mußte mal gesagt werden, das möge Konsequenzen haben – als ob wir als zänkische Kinder des Präsidenten zur Räson kommen müßten. Unmündige, die besser ihre Interessen vergessen. So, als ob die Mühen demokratischer Entscheidungsprozesse nicht von allen Beteiligten Kompromisse abfordern und die unspektakuläre, langwierige und langweilige Suche nach intelligenten Problemlösungen am besten ohne väterlich-mahnende Worte auskommt. Herzog hat seine Vorschläge nicht als wilhelminisch inspirierte Episteln angelegt, das widerspräche seinem Selbstverständnis. Seltsam ist nur, daß die sentimental-trotzigen Reaktionen ausfallen, als habe ein Kaiser in der Rolle des gütigen Führers gesprochen.
Das sagt mehr über die neodeutsche Stimmung, die offenbar auf Entscheidungen drängt, koste es, was es wolle. Und: Hoffentlich nimmt einem einer den Streit um die Probleme ab. Hauptsache, es passiert was. Jan Feddersen
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