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■ Rattenfänger sind in Indien heute gefragte LeuteHameln am Ganges

Delhi (taz) – Rattenfänger haben Hochkonjunktur in Indien. Seitdem in Surat die Pest ausgebrochen ist, wird ungerührt Jagd auf den „Rattus rattus“ gemacht. Zwar ist es der Rattenfloh, der den gefürchteten Bazillus Yersinia pestis beherbergt. Aber unter den rund 200 Nagetieren ist die Haus- und Feldratte der prominenteste Gastgeber des winzigen Tiers. „Wenn wir sie nicht vernichten, vernichten sie uns“ rief letzte Woche der zuständige Stadtrat von Bombay, A.B. Madhuskar, zu einer großen Rattenvertilgungskampagne auf.

Wie es sich für ein kastenbewußtes Land gehört, hat Indien auch seine Unterkasten von Ratten- und Schlangenfängern. Deren Mitglieder werden von jeder größeren Gemeinde auf der Besoldungsliste geführt. Während diese früher nur auf Anrufe verängstigter Hausfrauen hin ausrückten, machen sie seit zehn Tagen Überstunden. Und wie ihre spitznasigen Gegner arbeiten auch sie in der Nacht. Ausgerüstet mit einem langen Stock, überraschen sie die Tiere bei Rohrausflüssen, Kehrichthaufen und den vielen offenen Abwasserkanälen. Aber was ist schon die Ausbeute von 6.975 Exemplaren in einer Rekordwoche in Bombay, für welche die Bevölkerungsschätzungen wild zwischen fünf und fünfzig Millionen Tieren fluktuieren?

Da der beamtete Rattenfänger kaum mehr als 25 Tiere am Tag erlegt, erinnerte man sich zur Not an die Existenz eines kleinen Urstamms in Südindien, der sich von Ratten ernährt und der die Nager regelrecht „erriecht“. Diese Idee mußte aber fallengelassen werden; das Erriechen mag in einem Dorf ja noch möglich sein, aber nicht in der von faulenden Abfällen und Auspuffgasen geschwängerten Luft einer Großstadt.

Die Ratten-Esser aus Tamil Nadu sind nicht die einzigen, welche mit den Nagern ein symbiotisches Verhältnis haben. Inder respektieren nicht nur die Kuh – im Pantheon des Hinduismus weiden vielmehr ganze Menagerien, und selbst Schlangen, Krokodile und Ratten werden verehrt. Ein Beispiel bieten etwa die Tempelpriester des Karni-Mata-Tempels außerhalb der Stadt: Sie ernähren jeden Tag bei Sonnenuntergang Tausende von Ratten aus goldenen Schalen mit dem „Prasad“, der rituellen Opfergabe für die Götter. Gerade die Ratte Mushaka nimmt einen gewichtigen Platz ein: sie ist das Reittier des Elefantengottes Ganescha. Zusammen sind sie fähig, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Daß dazu aber, wie es momentan ausschaut, auch der Mensch gehören könnte, damit haben die Mythenschöpfer wohl kaum gerechnet.

Wie die Europäer im Mittelalter sehen fromme Hindus in der Pest eine Strafe Gottes. Pandit Saraswati vergleicht das Schicksal des Menschen mit jenem von Ganeschas Reittier und findet auch noch die Kurve zur modernen Umweltzerstörung: Genauso wie ein heiliger Gandharva zum Rattendasein verurteilt wurde, als er einem Yogi versehentlich auf die Füße trat, genauso, doziert der Astrologe, „ist der Mensch dazu verurteilt, in rattenwürdigen Zuständen zu hausen, weil er die Elemente Wasser und Luft mit Füßen tritt“. Daß der Mensch tatsächlich das größte Hindernis für seine eigene Wohlfahrt ist, dafür sind die Slums von Surat ein sprechendes Beispiel. Die indische Zeitung Asian Age hatte ebenfalls diesen Seuchenträger im Visier, als sie die Frage stellte, wer wohl die Pest vom Erdbebengebiet in Maharashtra ins 600 Kilometer entfernte Surat und von dort aus in mehrere Staaten getragen habe.

Die Ratte möge ja ein Reittier sein – aber als eifrige Zugreisende sei sie nicht bekannt. Bernard Imhasly

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