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Archiv-Artikel

Rapunzel-Business

Haarteile sind schick, aber woher stammt eigentlich das Material für die Pracht?

VON LORENZ SCHRÖTER

Alle sechs Wochen kommt der Mann mit dem Koffer. Er spricht kein Deutsch, und Peter Hohenschild kennt seinen Namen nicht. Das ist auch nicht wichtig. Es geht um die Ware. Peter Hohenschild winkt den Mann aus Polen oder Russland ins Hinterzimmer.

Im Vorraum wird den Damen unter den Hauben ihre Dauerwelle verpasst, das lachende Hin und Her der Damen und ihrer Friseusen läuft weiter wie in jedem normalen Friseursalon, und der Coiffeur „Hohenschild und Gottschalk“ ist ein fast schon altmodisch normaler Friseursalon in Berlin-Charlottenburg; ein Radio dudelt hinter dem Vorhang, Lesezirkelhefte mit halb ausgefüllten Kreuzworträtseln liegen auf den niedrigen Sesseln, der Garderobenständer könnte in einem Retroklub stehen.

Während also vorne alles lustig seinen üblichen Gang geht, machen Hohenschild und der Mann mit dem Koffer und ohne Namen im hinteren Teil des Ladens ihr Geschäft. Der Pole oder Russe öffnet den schäbigen Koffer, Hohenschild wiegt die abgepackte Ware, es kommt auf jede zehn Gramm an, denn das Produkt ist teuer, und auf die Qualität. Da kann ihm niemand etwas vormachen. Wie immer findet ein Bündel keine Gnade vor seinen Augen und wird aussortiert.

Damit hat man früher U-Boote isoliert“, meint Peter Hohenschild. Aber an dem Mann mit dem Koffer ist diese Information über den früheren Verwendungszweck der verdorbenen Ware verschwendet. Scheine wechseln den Besitzer, es gibt eine lächerliche Quittung, einen Zettel mit unleserlicher Unterschrift, das war’s. Der Mann mit dem leeren Koffer steckt sich eine Zigarette an, nickt den Friseusen zu und betritt die Krumme Straße. Von dort verschwindet er wieder in die Taiga oder sonst wohin. Herr Hohenschild weiß es nicht. In sechs Wochen wird wieder ein Kurier kommen, telefonisch angekündigt von einem Mann in Moskau, der auch kaum Englisch oder Deutsch spricht.

Die Preise sind stark gestiegen in den letzten Jahren“, erklärt der grauhaarige Aufkäufer mit dem akkurat gebügeltem Hemd freundlich. „Die Amerikaner kaufen alles auf.“ Anastacia, Britney Spears, Jennifer Lopez, aber auch die deutsche A-, B- und C-Prominenz wollen nicht verzichten auf die übrigens komplett legale Ware: Haare.

Perücken und Toupets werden meist aus Kanekalon geknüpft. In Südostasien ziehen fleißige junge Frauen mit feinen Häkchen Kunsthaar für Kunsthaar durch ein unglaublich engmaschiges Gewebe, bis nach fünfzig Stunden eine Perücke fertig ist, die zwar perfekt aussieht – doch mit den Fingern spürt man den Unterschied sofort. Deshalb muss es für Haarteile und -verlängerungen das wesentlich teurere Echthaar sein.

„Sehen Sie hier.“ Hohenschild deutet auf einen der vielen Schuhkartons in seinem Hinterzimmer mit gelblich strohigem Haar. „Je weiter Sie nach Osten kommen, desto dicker wird das Haar. Das ist Haar von Chinesen und wird chemisch behandelt, es wäre sonst einfach zu kräftig. Die ganze Schuppenschicht wird mit Chlor weggeätzt … und das bleibt übrig.“

Es ist wirklich ein trauriger Anblick. Das einst so kräftige, strahlend schwarze Haar sieht aus wie erfrorenes Gras im Winter.

„Ist natürlich preiswert.“

An den Wänden stapeln sich Borde mit offenen Schubladen wie bei Obi die Schraubenschachteln. In jedem ringeln sich lange, dicke Locken in allen Farbschattierungen. Sie sehen schön aus, die Haare, so unschuldig, man denkt unwillkürlich an Haarklemmen und rosa Zopfspangen.

Der Haarimporteur hebt eine andere, diesmal schwarze Locke hoch: „Indisches Haar sieht gut aus, fällt aber anders. Wenn Sie das als Haarteil tragen, dann wellt es sich und harmoniert nicht mit unserem Haar. Das Beste ist Kinderhaar aus Skandinavien“, schwärmt er. „Es ist kräftig und garantiert unbehandelt.“

Aber skandinavisches Kinderhaar ist nicht auf dem Markt. Das nächstbeste Produkt nennt sich europäisches Haar, und Europa geht bis zum Ural. Das heißt, europäisches Haar wuchs ursprünglich auf einem russischen, rumänischen oder ukrainischen Kopf. Und landete dann in einem Koffer.

„Wir kaufen ab zwanzig, dreißig Zentimeter. Achtzig Zentimeter oder gar ein Meter, das sind Schätze, aber so etwas finden Sie kaum.“ Das Haar von Frauen und von Männern ist identisch, doch Letztere färben sich kaum die Haare und lassen sich auch keine Dauerwelle legen. Deshalb ist die Qualität besser. Aber welcher Mann hat schon zwanzig Zentimeter langes Haar?

Die Haare müssen glatt abgeschnitten sein, in der Regel zu Bündeln von 80 bis 120 Gramm. Oben werden sie mit einem Gummiband zusammengehalten, denn sie müssen unbedingt in derselben Wuchsrichtung verarbeitet werden.

„Die Schuppenschicht der Haare hat die Struktur eines Tannenzapfens. Verwechselt man oben und unten, verkanten sich die Haare und verfilzen absolut wasserdicht. Damit hat man früher U-Boote isoliert. Heißt es zumindest.“

Peter Hohenschild verarbeitet nur einen Teil der Ware selbst. Er beliefert andere Friseure, Maskenbildner, Revuen. „Viele unserer Kundinnen stehen an der Oranienburger Straße.“ Das ist der Straßenstrich von Berlin. „Für deren Geschäft ist langes Haar ein Muss.“

Im Friseursalon an der Krummen Straße tauchen manchmal Kundinnen auf, die ihr Haar für dreißig bis vierzig Euro verkaufen, plus Haarschnitt. Über Gewinnspannen redet Herr Hohenschild natürlich nicht. Aber sie scheinen ordentlich zu sein. Nicht nur für ihn. Der Kurier, dem letzte Woche ein Koffer mit fünfzehn Kilo Haar an irgendeinem osteuropäischen Zoll beschlagnahmt wurde, hat einen echten Verlust erlitten. „Da hat er wohl zu wenig bestochen.“

Der Haargeschäft ist der reinste Ameisenhandel. Es gibt keinen Großimporteur, keine ordentliche GmbH mit Kaffeepausen und Bilanzen; auch Marktführer Fischbach und Miller in 88471 Laupheim und die amerikanischen Aufkäufer beziehen jedes einzelne Echthaar aus einem Koffer der dubiosen Lieferanten, die durch Osteuropa reisen und Haare erwerben, wo sie sie bekommen. Man munkelt von Leichenhäusern, psychiatrischen Anstalten, Gefängnissen, Exekutionsplätzen.

„Ich weiß es nicht, woher die Ware stammt“, erklärt der netter Herr Hohenschild trocken. „Es ist mir auch egal.“ Genauso wie seinen Kunden. Und vermutlich auch den Haaren.

LORENZ SCHRÖTER, 44, lebt als freier Autor und Journalist in Berlin