Raketenschild für George W. Bush : KOMMENTAR VON ADRIENNE WOLTERSDORF
Die Überraschung konnte nicht größer sein. Mit der Moskauer Drohung, den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) zu kündigen, hatten die USA nicht gerechnet. Noch am Tag zuvor hatte Außenministerin Condoleezza Rice wissen lassen, dass sie es „lächerlich“ fände, dass Russland sich wegen 10 Abfangjägern und ein paar Radaranlagen in Osteuropa so aufspiele. Die Russen nannte sie dabei aus Versehen „Sowjets“. Damit, so scheint es, ist die Stimmung in Washington auch schon am treffendsten bezeichnet. Was den Willen der US-Administration angeht, sich mit Moskau zu verständigen, ist man mental wieder ungefähr bei 1988 angekommen. Oder war, besser gesagt, nie so recht weitergelangt.
Wie in vielen anderen außenpolitischen Feldern auch ist das Weiße Haus in puncto Russland sofort bereit, die eigenen Interessen zu verfolgen – und hat offenbar immer noch nicht gelernt, dass es darauf dann gelegentlich missliebige Reaktionen gibt. Washington scheint vergessen zu haben, dass es selbst, übrigens ebenfalls ohne Ankündigung, 2001 den seit 1972 bestehenden ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen mit Moskau kündigte. Der Kreml hat das den USA wohl kaum verziehen.
Seitdem hat Washington unbekümmert dazu beigetragen, dass aus dem kurzen Frühling nach dem Fall der Mauer bald wieder ein frostiger Winter wurde. Systematisch versuchen die USA seit den 90er-Jahren, Russland mit konkurrierenden Pipelines und Energieprojekten zu umzingeln. Jeder Versuch Moskaus, in der Iran-Frage zu vermitteln, wurde beiseitegefegt, und die Regierung Bush lässt keine Gelegenheit ungenutzt, Russland als das Reich des Bösen zu porträtieren.
Dass die USA mit der geplanten Stationierung von US-Abfangraketen in Osteuropa so undiplomatisch vorgehen, zeigt zugleich, wie dringend die US-Regierung einen Erfolg benötigt. Der mit den aussichtslosen Kriegen im Irak und in Afghanistan zunehmend unter Druck geratende Präsident George W. Bush hat den Raketenschild als eines seiner letzten großen Projekte auf der Agenda. Wenn selbst das nichts wird, dann gibt es nichts, was Bush als seinen Erfolg ausgeben könnte.