Räumungsverkauf bei Hertie: Alle müssen raus
Für die drei Berliner Hertie-Filialen sind die Tage gezählt. Die Kunden durchwühlen die Schnäppchen. Verbände, Gewerkschaften und Senat suchen nach Lösungen für Häuser und Beschäftigte. Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen steigt.
Wäre immer so viel los gewesen bei Hertie, müssten die Beschäftigten nicht um ihre Zukunft bangen. Menschentrauben haben sich um die Wühltische gebildet, an den Kassen stehen Rentner, Väter und Mütter mit Kleinkindern, junge Frauen Schlange. Alles ist mindestens 50 Prozent reduziert, manches gar 80 Prozent - Strümpfe für einen Euro, Gabeln für 50 Cent, CDs für zwei Euro, da findet jeder etwas. Hertie an der Turmstraße macht an diesem Samstag dicht - die Filialen in der Schöneberger Hauptstraße und in Tegel eine Woche später. Rettungsversuche sind gescheitert. Die Häuser werden leer stehen, die Angestellten auf der Straße.
"Das ist eine Katastrophe für den Bezirk", sagt Anja Mitea. Seit 25 Jahren wohnt sie in Moabit, nun sucht sie in den großenteils leergeräumten Regalen nach letzten Schnäppchen. "Hertie ist hier ein fester Bestandteil, das einzige Kaufhaus." In der Turmstraße treffen sich ohnehin die Benachteiligten der Gesellschaft. Vor dem Schaufenster eines Mobilfunkladens sortiert ein Obdachloser seine Plastiktüten um, an der Currywurstbude trinken vier ältere Herren morgens um halb elf Bier. Ein Hund kackt an das Halteverbotsschild, niemand achtet darauf.
"Ohne Hertie kann man die Turmstraße ganz vergessen", sagt der Rentner Erhard Liebner. Er stellt sich mit einer Schaltuhr und einem Kabel an der Kasse an. "Das sind Souvenirs, eigentlich brauche ich das nicht." Künftig wird Liebner bis zur Wilmersdorfer Straße fahren müssen, um Waren für den täglichen Bedarf zu bekommen. Für das Vorgehen des Hertie-Eigentümers Dawnay Day fehlt dem älteren Herrn jegliches Verständnis.
Johann Rösch auch. Der Handelssekretär im ver.di-Bundesvorstand schreibt der - ebenfalls insolventen - britischen Immobiliengruppe die Hauptschuld an der Pleite zu. Sämtliche Gespräche mit Interessenten seien an der kompromisslosen Haltung der Privatinvestoren gescheitert, sagt er der taz. "Dawnay Day hat überhaupt keine soziale Verantwortung übernommen." Mitte Mai beschloss die Gläubigerversammlung die "komplette Liquidation" der mehr als 70 Hertie-Häuser bundesweit. Alle machen dicht. "Das ist mehr als bitter", sagt Rösch. "Vor einem Jahr ist der Insolvenzverwalter mit 73 Filialen gestartet, keine einzige bleibt übrig."
In Berlin sind 260 Mitarbeiter betroffen. Sie haben ihre Kündigung erhalten. Nur eine Handvoll Auszubildender darf bei Kaufhof weiterlernen. Die dritte und vierte Etage im Haus an der Turmstraße sind bereits geschlossen. In die zweite muss man hochsteigen. Die Rolltreppe steht schon still.
Seit Wochen suchen Wirtschaftssenator Harald Wolf (Linke), Vertreter von Branchenverbänden, ver.di und Betriebsrat in gemeinsamen Gesprächen nach Lösungen für Häuser und Mitarbeiter. "Eine Auffanggesellschaft für die Berliner Hertie-Mitarbeiter hat sich leider nicht durchgesetzt", sagt der Geschäftsführer des Handelsverbands Berlin-Brandenburg, Nils Busch-Petersen. Er befürworte eine solche Lösung nach wie vor - angesichts hunderter offener Stellen im Einzelhandel und anstehender Neueröffnungen etwa im Umfeld des Großflughafens in Schönefeld. "Kaufhausmitarbeiter sind exzellent ausgebildet", so Busch-Petersen.
Sowohl der Handelsverbandschef als auch Rösch von ver.di bescheinigten Senator Wolf ein äußerst engagiertes Vorgehen. "Ich glaube, dass man alles menschenmögliche getan hat", sagt Rösch. Nicht jedes Bemühen indes münde eben in eine Lösung; die Gespräche mit dem Senat liefen aber weiter. Zunächst also werden die drei Häuser ihre Türen schließen.
Leichte Hoffnung in Tegel
Für Tegel immerhin besteht etwas Hoffnung. Wolfs Sprecher hält sich zwar bedeckt mit dem Hinweis auf Vertraulichkeit, Busch-Petersen aber sagt, es gebe Hinweise auf Interessenten für die Filiale. Er verweist darauf, dass jede dauerhafte Kaufhaus-Schließung katastrophale Auswirkungen für das Umfeld habe. "Man darf nicht vergessen, wie symbiotisch Warenhäuser als Standorte wirken", sagt er.
Nicht umsonst hat der Drogeriemarkt, der mit eigenem Eingang ins Hertie-Haus Turmstraße integriert ist, große Schilder in die Fenster gehängt: "Wir bleiben hier!" Die Angst geht um, dass die Kunden nicht mehr kommen, wenn Hertie geschlossen ist. Die Attraktivität von Straßenzügen nimmt bei langen Leerständen rapide ab - nach einer Weile interessieren sich dann nur noch Pfennigfuchser für die Flächen. Hinzu kommt, dass Hertie ja nur der Anfang ist: Auch die Woolworth- und Karstadt-Mitarbeiter wissen nicht, wie lange ihre Stellen noch existieren.
Rösch hofft, dass sich Magneten wie Verbraucher- oder Elektronikmärkte als Neumieter finden. "Am besten wäre schon, wenn kein Flickenteppich entstünde." In Hamburg bestehe die Chance, dass die Kette Kaufland zwei Filialen übernimmt. Ähnliches gelte für Dortmund, auch in Schleswig-Holstein gebe es konkrete Interessenten, sagt Rösch.
Die Verkäuferinnen in der Turmstraße mögen sich nicht mehr an solche Hoffnungen hängen. "Klar schauen wir uns nach neuen Jobs um", sagt eine Beschäftigte. "Auf wen sollen wir denn warten?" Mittelfristig gehe "doch alles den Bach runter".
Ihre Kollegin pflichtet ihr bei: "Karstadt, Woolworth, die werden doch genau so dastehen wie wir." Dann räumt sie Lebensmittel aus dem Regal. Das Haltbarkeitsdatum ist abgelaufen.
Bereits 850 Firmen stellten ihren Betrieb in den ersten sechs Monaten des Jahres ein
Die Wirtschaftskrise kommt bei den Unternehmen an: In den ersten sechs Monaten dieses Jahres sind 850 Unternehmen in die Insolvenz gegangen - gut 16 Prozent mehr als im entsprechenden Zeitraum des vergangenen Jahres. Das ergibt sich aus den Zahlen, die das Inkasso- und Wirtschaftsauskunftsunternehmen Creditreform am Montag veröffentlicht hat. "Berlin trifft es nicht so hart wie Regionen, die vom produzierenden Gewerbe abhängig sind", so Unternehmenssprecher Hans Ulrich Fitz. Da zeigen sich die Vorzüge von Berlin als Dienstleistungsstandort: Die Stadt ist von der Krise "betroffen, aber in einem viel geringeren Maße als der Bundesdurchschnitt", so Fitz.
Die Krise zeigt sich etwa auch in der Überschuldung vieler Unternehmen: Fast die Hälfte der kleinen und mittleren Betriebe hat eine Eigenkapitalquote von weniger als 10 Prozent. Der Rest des Kapitals ist geliehen - etwa von Banken oder Lieferanten.
Auf der anderen Seite werden aber auch viele Unternehmen neu gegründet: 2.430 waren es laut Creditreform in den ersten sechs Monaten dieses Jahres. Unter dem Strich werden also mehr Unternehmen neu gegründet, als durch erzwungene Insolvenzen oder durch das freiwillige Ende des Betriebes vom Markt verschwinden.
Die Zahl der Insolvenzen von Privatleuten ist dagegen stabil. 3.110 Personen meldeten im ersten Halbjahr Privatinsolvenz an, das sind 80 weniger als im Vorjahreszeitraum. Auch im bundesweiten Vergleich steht Berlin gut da: Von 100.000 Berlinern gingen 79 in Privatinsolvenz - 11 weniger als im Bundesdurchschnitt. Creditreform rechnet damit, dass die Zahl der Privatinsolvenzen im zweiten Halbjahr allerdings ansteigt: Wenn wie erwartet mehr Menschen arbeitslos werden und ihre Verbindlichkeiten nicht mehr zahlen können, droht Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit.
Nach Ansicht von Wirtschaftssenator Harald Wolf (Linke) ist es möglich, dass die Wirtschaftsleistung in Berlin in diesem Jahr lediglich um bis zu 4 Prozent zurückgeht, während der Bund ein Minus von 6 Prozent erwartet. Wolf verweist auf die vielen Dienstleistungsunternehmen sowie die Industriezweige Pharma und Ernährung, die sich bislang in der Krise als relativ stabil erwiesen hätten. Auch er glaubt allerdings: "Der Wirtschaft stehen noch schwierige Monate bevor." SEBASTIAN HEISER
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