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Archiv-Artikel

ROBIN ALEXANDER über SCHICKSAL „Lass alles und jeden zurück!“

Die Frau mit der buntesten Visitenkarte der Welt will nach oben. Und ist erst mal in Sachsen-Anhalt gelandet

Sie steckt mir einen Knopf ihres Walkmans ins Ohr, obwohl wir uns erst seit fünfundvierzig Minuten kennen. Keine Geste eines Flirts, denn von der Kassette kommt die Stimme ihre Mannes. Eine tiefe, afrikanische Stimme, die auf Englisch doziert: „DU MUSST DEINE ZIELE DEFINIEREN UND SIE DANN KOMPROMISSLOS VERFOLGEN.“ Das ist der Duktus eines Motivationstrainers. Eines sehr entschlossenen Motivationstrainers: „LASS ALLES UND JEDEN ZURÜCK, DER ZWISCHEN DIR UND DEINEN ZIELEN STEHT.“

So etwas hört Victoria M., schöne Frau, gutes Englisch, knapp über Dreißig, auf einer Zugfahrt zwischen Braunschweig und Hannover. Unsere Bekanntschaft verdanken wir nur den Platzkarten und eigentlich geht es mich ja gar nichts an, aber ich bin jetzt doch sehr versucht zu fragen: Hat dein Mann sie noch alle?

In Wirklichkeit sage ich dann:

– Er klingt, ehrlich gesagt, nicht so richtig entspannt.

– Danke, er ist wirklich sehr erfolgreich.

Sie lächelt, als hätte ich ein Kompliment gemacht. Dann zeigt sie mir sein Foto: 15 x 20 Zentimeter, glänzend: ein nicht mehr ganz junger Krawattenmann. Und dann ihre eigene Visitenkarte. Die wahrscheinlich bunteste Visitenkarte der Welt. Darauf ist ihr schwarzes Gesicht zu sehen mit vollen roten Lippen und einem traditionellen Kopfschmuck über den Haaren. Sie steht vor einem großen Wappen, das eine stilisierte Weltkarte zeigt und die Aufschrift: „Victoria M., Präsidentin der nigerianischen Jugendhandelskammer. Besitzerin einer Gärtnerei in Laos, Mitglied der internationalen Organisation ‚Führer von morgen‘“.

Jetzt bin natürlich ich dran: Auf meiner Visitenkarte steht nur der Name dieser Zeitung, mein eigener und zwei Telefonnummern. „Viel Platz für Notizen“, sage ich entschuldigend. Gott sei Dank habe ich ein Foto meiner Freundin im Portemonnaie: Es ist allerdings nur ein halbes, verwackeltes Polaroid, das ihre kleine Schwester mal geschossen und mir dann geschenkt hat. Während meine neue afrikanische Bekanntschaft höflich den Schnipsel begutachtet, kommt er mir auf einmal gar nicht mehr süß vor, sondern beinahe ein bisschen schäbig.

Victorias Mann verkauft seine Motivationskassetten. Er sei sehr populär, sagt sie, vielleicht bekomme er bald eine eigene Fernsehsendung. Sein Erfolg beruhe darauf, zu erklären, wie man erfolgreich wird. Bei ihr habe es auch funktioniert. Über den Walkman-Knopf höre ich: „LASS DICH NICHT AUFHALTEN. NICHT VON DEINEN FEINDEN. NICHT VON DEINEN FREUNDEN. NICHT VON DEINER FAMILIE. NICHT VON DIR SELBST.“

Das klingt aber hart, sage ich.

Das ist ganz wichtig für Afrika, sagt sie, hier kümmern sich alle so um ihre Verwandtschaft, dass keine Zeit mehr für das eigene Fortkommen bliebe.

Deutschland hingegen sei ein guter Ort, zu lernen, seine Ziele zu erreichen. Die Deutschen seien doch für ihre Konsequenz berühmt. Sie, die Gärtnerin, habe gerade einen internationalen Aufbaustudiengang begonnen, der ihr später helfen werde, ihre Ziele zu erreichen: Landscape Architecture in Bernburg.

In Bernburg? Da habe ich geschluckt. Ich habe dann nicht gesagt, dass es mich erstaunt, dass es in Bernburg überhaupt eine Uni gibt. Und dass Sachsen-Anhalt nicht unbedingt der Ort ist, wo man in Deutschland Menschen vermutet, die sich Ziele setzen und diesen alles unterordnen. Ich habe das aber nicht gesagt, sondern:

– Und wie läuft’s bisher?

An die Dunkelheit und das fade Hühnchenfleisch aus der Kühltheke müsse sie sich noch gewöhnen, sagt sie. Aber das ginge schon. Sie hätte auch viel zu tun. Nur zu Weihnachten, als die anderen internationalen Landschaftsarchitekten alle nach Hause reisten, war sie plötzlich im leeren Studentenwohnheim ganz allein. Sie hat sich dann einfach in den teuren deutschen Zug gesetzt und ist bis nach Amsterdam gefahren. Dort lebt ein entfernter Verwandter.

Bernburg oder Afrika?kolumne@taz.de

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