ROBIN ALEXANDER über SCHICKSAL : Wein, Weib und Gerippe
An Allerheiligen hätten meine Mutter und ich auf dem Friedhof doch beinahe öffentliches Ärgernis erregt
Wie so viele kriminelle Delikte hat auch unseres seine Ursache in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Konkret darin: wie schlimm diese kalte Leistungs- und Selbstverwirklichungs-Gesellschaft in ihrem Jugendwahn mit alten Menschen umgeht. Ganz konkret darin: wie sich meine Uroma über die Einsamkeit ihres neunten Lebensjahrzehnts mit einem Vertreter für Wein hinwegtröstete.
Na gut: Eigentlich war meine Uroma überhaupt nicht einsam. Und die Gesellschaft hat sich in Gestalt von Zivildienstleistenden auch ganz gut gekümmert. Morgens kam einer vorbei und putzte ihre Wohnung. Mittags kam ein anderer und brachte ihr Essen auf Rädern. Jeden zweiten Nachmittag schaute die Angestellte eines Pflegedienstes vorbei und beinahe täglich ihre Enkelin, meine Mutter. Bei Oma Lene war eigentlich immer was los. Sie kam kaum dazu, zwischendurch in Ruhe Schwarzwaldklinik zu gucken.
Meine Uroma hat allerdings nicht nur gerne Menschen um sich gehabt, sie hat auch verdammt gerne guten Wein getrunken. Von deutschen Weingütern am Rhein und an der Mosel. Weißen lieber als roten und immer lieblich. Einmal bis zweimal im Monat, später gar jede Woche stand ein Handlungsreisender in Sachen Wein vor ihrer Tür. Stundenlang machten die beiden eine Weinprobe in Omas Wohnzimmer. Hier ein Schlückchen, dort ein Scherzchen, am Ende kaufte meine Uroma mehr Wein, als sie trinken konnte, und bekam dafür einen mit bäuerlichen Motiven bemalten Porzellanteller und eine Rechnung, die ungefähr ein Drittel ihrer Rente ausmachte. Das fand meine Mutter nicht so gut.
– „Der beutet dich doch aus“, redete sie wieder und wieder auf Oma Lene ein.
– „Aber Kind“, antwortete die, „probier doch mal diesen köstlichen Riesling.“
– „Aber verstehst du denn nicht? Der Wein ist doch völlig überteuert!“
– „Aber so lecker.“
So ging es jahrelang. Die Weinrechnungen wurden immer höher, obwohl meine Uroma immer weniger trinken konnte. All ihre Freundinnen, Verwandten und Zivis bekamen ständig liebliche, deutsche Weine geschenkt. Meine Eltern auch. Sie trinken aber lieber trockenen Roten. Bei uns zu Hause stapelten sich die Flaschen und der Ärger meiner Mutter wuchs. Doch mein Vater weigerte sich, einen Anwalt zu engagieren oder dem Weinvertreter mit Schlägen zu drohen.
– „Sie hat doch genug Geld“, meinte er. „Die Bergmannswitwen sind doch alle gut versorgt.“
– „Glaubst du, Opa Anton hat unter Tage geschuftet, damit seine Frau jetzt überteuerten Wein kauft, von dem sie nur ein Schlückchen trinken darf?“
– „Ja, wofür denn sonst?“, fragte mein Vater.
Bei mir hatte meine Mutter mehr Glück. Als Pubertierender war ich bereit, jeden gerechten Furor sofort zu teilen und dem widerlichen Alte-Leute-Ausbeuter gemeinsam mit meiner Mutter im Hausflur aufzulauern. Es kam nicht zu Handgreiflichkeiten, aber doch zu einem deutlichen Wortwechsel. Wir hatten etwas erreicht: Künftig rief der Vertreter vor jedem Besuch bei Oma an und fragte, ob die Luft rein sei.
Längst ist meine Uroma tot. Der Weinvertreter schickte eine Beileidskarte. Fast ein Jahrzehnt ist seitdem vergangen. Ein Jahrzehnt, in dem meine Eltern langsam auf den Geschmack gekommen sind. Es gibt da so einen Italiener, der leckere, ökologisch angebaute Rotweine aus der Toskana in geschmackvollen Holzkisten verschickt. Mein Vater rechnet die Rente schon in Relation zur Jahresweinrechnung aus.
Meine Mutter schmerzt zu Recht ein schlechtes Gewissen – besonders zu Allerheiligen, dem Feiertag Anfang November, an dem Katholiken kleine Lichter auf die Gräber ihrer Verstorbenen stellen. Deshalb sind Mutter und ich in diesem Jahr sehr spät allein zum Grab von Oma Lene gegangen. Wir trugen vier Grablichter und unter dem Mantel eine sehr teure Flasche Wein. Wir zogen den Korken raus. Meine Mutter sprach für sich leise ein Vaterunser. Wir ließen den Wein schweigend noch ein wenig atmen. Dann schütteten wir ihn aufs Grab.
Lieblich oder trocken? kolumne@taz.de Montag: Peter Unfried über CHARTS