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Archiv-Artikel

RENITENTE NEINSAGER WIE SEEHOFER SIND FÜR CDU UND CSU EIN NOVUM Dissidenten neuen Typs

Als wären die Zeiten nicht seltsam genug: Jetzt haben auch noch die Konservativen die urlinke Figur des Dissidenten entdeckt. Mit Horst Seehofer verlässt nach Friedrich Merz schon der zweite exponierte Fachpolitiker die Mannschaft von Angela Merkel. Der CSUler mit dem sozialen Gewissen und der Marktradikale in der CDU kommen – das sieht man schon auf den ersten Blick – nicht aus der gleichen Ecke. Das macht ihre Gemeinsamkeiten umso aufschlussreicher.

Merz und Seehofer stehen beide für Positionen, die so klar sind, dass sie sich in einfachen Slogans ausdrücken lassen. Die Steuererklärung auf dem Bierdeckel ist bei Merz das, was die einleuchtende Verbindung „kleines Einkommen, kleine Beiträge; hohes Einkommen, hohe Beiträge“ für Seehofer ist. Beide Politiker scheinen wirklich so sehr an das zu glauben, was sie vertreten, das sie anderes – auch Kompromisse – eben nicht mitvertreten.

Normal ist das nicht in der Politik. Deshalb werden die Ursachen gern im Persönlichen vermutet: Seehofers Krankheit, Merz’ Entmachtung als Fraktionschef sollen die beiden kompromissuntauglich gemacht haben. Doch die Ursache dafür, dass plötzlich Dissidenz bei den Konservativen Konjunktur hat, liegt tiefer: Die immer augenfälligere Misere der Konsensgesellschaft produziert eine Sehnsucht nach klaren Lösungen. Das Heil wird nicht im Einfachen, aber im Eindeutigen gesucht. Seehofer und Merz nehmen diese Sehnsucht auf.

Und wie sieht es in Sachen produktiver Dissidenz auf der Linken aus? Finster. Bei den Sozialdemokraten lassen sich Kritiker einbinden von einem Parteivorsitzenden, der aus taktischen Gründen Positionen vertritt, von denen er nicht überzeugt ist. Bei den Grünen herrscht unter Bütikofer, Göring-Eckart und Sager sowieso radikale Funktionärshaftigkeit. Kann man sich als Regierung noch weniger Abweichung leisten? Ja, aber mit nach allen Seiten abgesicherten Entscheidungen kann man in der Krise auch nicht mehr regieren. Und – nicht nur Konservative haben Sehnsucht nach eindeutigen Konzepten – vielleicht bald schon keine Wahlen mehr gewinnen. Auch Rot-Grün könnte Leute gebrauchen, die Konzepte haben, für die sie auch wirklich stehen. ROBIN ALEXANDER