piwik no script img

Archiv-Artikel

RALPH BOLLMANN POLITIK VON OBEN Ist so viel Unsinn nötig?

Mut kann man im Wahljahr kaum verlangen. Trotzdem ist der billige Antikapitalismus schwer erträglich, dem sich die Politik derzeit hingibt

Der weise alte Mann blieb freundlich wie immer, trotzdem hielt er mit seiner Meinung über die Berliner Debattenkultur nicht hinter dem Berg. „Die Herausforderungen, vor denen wir heute in Europa stehen“, sprach Lord Dahrendorf, „sind vielleicht etwas größer, als hier heute deutlich geworden ist.“

Es war in der Tat ein zweifelhafter Diskussionszirkel, den die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung zum 80. Geburtstag des deutsch-britischen Soziologen zusammengestellt hatte, der als Parteiloser im Londoner Oberhaus sitzt. Um einen der größten europäischen Intellektuellen zu ehren, hatten die Veranstalter ausgerechnet den Fernsehmoderator Heiner Bremer und die FDP-Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin aufs Podium gesetzt.

Die Runde war aber auch symptomatisch für die Art und Weise, wie im politischen Berlin bei eingeschalteten Mikrofonen über die Finanz- und Wirtschaftskrise gesprochen wird. Staatsversagen, raunt die FDP. Alles im Griff, versprechen Union und SPD. Ökologie ist die Lösung, sagen die Grünen. Wir haben recht gehabt, spricht die Linkspartei.

Wenn keiner mitschreibt, plaudern Politiker aller Parteien unbefangen über düstere Zukunftsszenarien – und lassen durchblicken, was sie sonst gerne für sich behalten: dass auch sie in der neuen Lage ratlos sind. Öffentlich kann man den Mut zu so viel Wahrheit in einem Wahljahr vielleicht nicht verlangen. Aber ist es deshalb nötig, dass so viel Unsinn dahergeredet wird?

In der italophob aufgeheizten Stimmung gegen eine Übernahme des maroden Autobauers Opel durch den erfolgreichen Turiner Fiat-Konzern beispielsweise traut sich kein Politiker, das Naheliegende zu sagen: dass das Interesse der Italiener ein Glücksfall ist und dass der Erhalt sämtlicher Arbeitsplätze in Deutschland auch mit jedem anderen Investor illusorisch wäre.

Ähnlich war es schon, als Bankchef Josef Ackermann jüngst sein Ziel einer 25-prozentigen Rendite aufs Eigenkapital erneuerte. Kein Politiker wies darauf hin, dass es sich dabei keineswegs um eine Rendite für Anleger handele – und Ackermanns Ziel mithin nicht Ausdruck übergroßer Gier sei, sondern allenfalls auf eine allzu knappe Ausstattung mit Eigenkapital verweise. Stattdessen drang ein Murren aus dem Kanzleramt, Ackermanns Ankündigung sei das falsche Signal.

Richtig oder falsch ist im Wahl- und Krisenjahr also gar nicht der Maßstab, es geht einzig ums Signal. Und so ist sich die politisch-mediale Klasse, die früher neben wichtigen Reformen auch manchen Unsinn einhellig bejubelte, wieder vollkommen einig. Nur dass sie jetzt in die entgegengesetzte Richtung marschiert. Da ist die FDP, die eisern bei ihrer Meinung bleibt, fast schon sympathisch – hätte nicht die deutsche Geschichte gezeigt, dass neben einem Zuviel an politischer Biegsamkeit auch ein Zuwenig an Opportunismus fatale Folgen haben kann.

Während sich die Öffentlichkeit lustvoll über derlei Belanglosigkeiten erregt, werden mit weit weniger Getöse fatale Fakten geschaffen. Um die Entlastung der Banken von Schrottpapieren, die das Kabinett am Mittwoch beschließen will, wird intern zwar noch gerungen. Klar scheint aber schon, dass die Steuerzahler einen beträchtlichen Teil der Bankrisiken, mehrere hundert Milliarden Euro, übernehmen sollen. Zahlbar in zehn bis zwanzig Jahren, was eine derart gigantische Summe selbst für Politiker irrelevant macht – seit nicht mehr das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit en vogue ist, sondern die vulgärkeynesianische Parole, langfristig seien wir alle tot. Offenbar verstehen die wahlkämpfenden Politiker den Satz nicht als Verweis auf ein Naturgesetz, sondern als Handlungsanweisung für die Arbeit am Untergang.

■ Der Autor leitet das Parlamentsbüro der taz. Foto: Archiv