QUERSPALTE: Eine tiefe Faszination
■ Goebbels' Tagebücher halten die britische Presse in Atem
Das britische Königshaus ist vorerst abgemolken. Nachdem die Ehen von drei Königskindern gescheitert oder von der Presse als gescheitert erklärt worden sind, gibt „Palace“ — wie das Frühsommertheater in Anlehnung an „Dallas“ getauft wurde — nichts mehr her. Und an den Jüngsten der Queen, Prinz Edward, traut sich die Presse nicht so recht heran. Das Gerücht, er sei schwul, ist denn doch zu heiß. Rechtzeitig zum Anbruch des Sommerlochs tauchten nun die Goebbels-Tagebücher auf. Neben den Buckingham-Neuigkeiten gibt es kein Thema, das auf die englische Öffentlichkeit eine solch tiefe Faszination ausübt wie der Zweite Weltkrieg. Es vergeht keine Woche, in der nicht ein alter Schwarzweißfilm über den Bildschirm flimmert, in dem schöne, starke Engländer die radebrechenden, tumben Nazis das Fürchten lehren. Jedes englische Schulkind kennt das Wort „Schweinehund“.
Ach, wenn die Welt doch noch so einfach und das britische Weltreich noch intakt wäre! Dann könnte man die Kriegstagebücher des Nazi-Propagandaministers Joseph Goebbels — so interessante Details sie auch enthalten mögen — nüchtern auf ihre historische Bedeutung untersuchen. Da die Zeiten der britischen Kolonialmacht jedoch vorbei sind, klammert man sich an die Geschichte. Beim letzten Mal ist das für die Sunday Times freilich in die Hose gegangen. Noch heute erblaßt Herausgeber Andrew Neil bei der Erwähnung der Hitler-Tagebücher. Sind die Goebbels-Aufzeichnungen eine Chance, sich nun zu rehabilitieren? Wohl kaum. Zwar besteht an ihrer Echtheit offenbar kein Zweifel, aber bei der Auswertung hat man den Bock zum Gärtner gemacht. Dem selbsternannten Historiker David Irving — ausgerechnet ein Brite, der Hitlers Sommerresidenz in Berchtesgaden als „Gral“ bezeichnet — ist nicht gerade über den Weg zu trauen. Schließlich hat er sich in der Vergangenheit durch Verdrehungen, Fälschungen und Auslassungen hervorgetan, um seine These von der „Auschwitz- Lüge“ zu beweisen. Warum sollte der Held der Neonazis diesmal anders vorgehen?
Der englischen Presse ist das völlig egal, solange die Auflage steigt. Daily Mail, Daily Express — alle sind hinter den Goebbels-Tagebüchern her. Fest steht, daß der Pseudo-Historiker Irving seine hanebüchenen Geschichtsinterpretationen im Gegenzug für die Tagebücher in fast jeder englischen Zeitung veröffentlichen dürfte. Das einzige Ereignis, das dieses Thema jetzt noch von den Titelseiten verbannen könnte, wäre eine Scheidung der Queen. Was macht eigentlich Konrad Kujau dieser Tage? Ralf Sotscheck
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen