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Der Kommentar

Putins Krieg und die neue Realität Was würde ich tun?

Die Todesbereitschaft der ukrainischen Bürger im Freiheitskampf gegen Russland zwingt die Deutschen, sich lange vermiedenen Fragen zu stellen.

Rekruten der Marinetechnikschule Parow (Mecklenburg-Vorpommern) bei der Vereidigung Foto: picture alliance / dpa/Jens Büttner

„In einer Gesellschaft, in der seit Jahren jeden Freitag gegen Konsum auf Kosten der Natur demonstriert wird, scheint man nicht bereit zu sein, durch konkrete Konsumeinschränkung tausendfaches Menschenleben zu retten“ ( …) „ Der deutsche Wirtschaftsminister argumentiert, dass sein Veto gegen ein Gasembargo Schaden vom Deutschen Volk abwenden soll. Ob die unterlassene Hilfeleistung für die Ukraine eine solide Basis zur Sicherung ihres Wohlstandes sein kann, muss die deutsche Gesellschaft beantworten.“

– Die polnische Politologin Justyna Schulz in der FAZ

Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 29.03.22 | Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck glaubt nicht daran, dass die Bürger und Unternehmen der Bundesrepublik bereit sind, sich für das Ende des russischen Krieges gegen die Ukraine einzuschränken, was Grundlage eines Energie-Embargos wäre. Deshalb soll der Ausstieg aus der Energieabhängigkeit von Russland bis zum Winter 2023 gestreckt werden. Wie bisher werden täglich Millionen Euro und Dollar in Putins Kriegskasse eingezahlt - oder wenn es verlangt wird, auch Rubel.

Die Bundesregierung geht wohl auch davon aus, dass es keine Bereitschaft bei den Bundesbürgern gibt, über die große Hilfsbereitschaft für die Flüchtlinge hinaus, den Freiheitskampf der Ukrainer aktiv zu unterstützen. Die von Kanzler Scholz auf den Weg gebrachten 100 Milliarden Euro für die Wiederaufrüstung der Bundeswehr zu einem kriegsfähigen Bestandteil einer europäischen Armee innerhalb der Nato, werden schon klein geredet, bevor der erste Euro dafür ausgegeben ist.

Putin schreckt kein Preis

Die Anti-Kriegs-Strategie des Westens ist es, Russland mit Wirtschaftssanktionen und mit Waffenlieferungen für die Ukraine zum Rückzug ohne zu viel Gesichtsverlust zu drängen. Bei allen Entscheidungen wird darauf geachtet, auf keinen Fall aktive Kriegspartei zu werden. Dieser Versuch eines passiven Eindämmens der russischen Aggression liefert allerdings die Ukraine faktisch den russischen Kriegszielen aus.

In der Ukraine kämpfen derweil Männer und Frauen, Junge und Alte aus allen Schichten, teils selbstbewaffnet, unter Einsatz ihres Lebens einen von den reinen Kräfteverhältnissen her betrachtet aussichtslosen Kampf gegen eine militärische Weltmacht. Aber es ist ihnen bisher gelungen einen russischen Durchmarsch zur Annexion der Ukraine aufzuhalten.

Die kämpfende Ukraine hat die russische Armee in einen Abnutzungskrieg gezwungen, der für Russland bereits jetzt mit etwa 15.000 toten Soldaten und großen Verlusten an Militärtechnik sehr teuer ist und immer teurer werden wird. Doch Russlands Präsident Putin schreckt dieser Preis nicht. Sein Wille ist ungebrochen, dem Rest der Welt eine von ihm diktierte Machtordnung aufzuzwingen.

Reale Kriegsgefahr für Westeuropa

Es besteht die Möglichkeit, dass Kriegsherr Putin seinen Krieg über die roten Linien des Westens hinaus ausweitet, wenn er in die Defensive kommen sollte. Seine Drohungen, mit dem Einsatz von taktischen Atomwaffen, von Giftgas oder Biowaffen, die Niederwerfung der Ukraine zu erreichen, müssen ernst genommen werden. Auch ein Kriegseintritt Weißrusslands wird immer wahrscheinlicher.

Auszuschließen ist auch nicht, dass Russland von sich aus dem Westen keine Energie-Rohstoffe mehr liefert, um die liberaldemokratischen Gesellschaften weiter zu destabilisieren. Auch nicht auszuschließen ist, dass die osteuropäischen Länder real in diesen Krieg hineingezogen werden und er noch näher an die Bundesrepublik heranrückt.

Mit dem sicher noch lange dauernden Krieg in der Ukraine und einer realen Kriegsgefahr für ganz Westeuropa und die Bundesrepublik, hat sich eine der zentralen Gewissheiten im politischen Selbstverständnis Deutschlands erledigt.

Bereitschaft für Verteidigung der Freiheit?

Die Selbstfestlegung als politische Kraft in Europa, die allein durch Wohlverhalten, durch Appeasement, durch sogenannte Realpolitik und Geschäfte den Bedrohungen der demokratischen Freiheiten in Russland und seinen Nachbarländern widerstehen kann, hat in der Wirklichkeit keine Basis mehr.

Dagegen steht nun die Frage ganz oben auf der politischen Agenda, ob die Bürger der Bundesrepublik bereit sein werden, auch militärisch und mit dem Einsatz ihres Lebens, ihre Freiheit zu verteidigen, die sie nach dem von ihren Vorfahren verschuldeten II. Weltkrieg unverdient geschenkt bekommen haben. Der „Wieder-Einbruch des Existentiellen in den Hochsicherheitstrakt der Gegenwart“, wie Konrad Schuller das in der FAZ nennt. zwingt zum Abschied von den falschen Gewissheiten deutscher Friedensseligkeit.

Die Ukrainer werden nicht kapitulieren. „Wenn Russland uns okkupieren möchte, muss es uns erst umbringen“, sagte die Filmregisseurin Olha Zhurba in der Tageszeitung Die Welt. Diese zum Tode entschlossene Radikalität der ukrainischen Bürger im Kampf für die Freiheit und die Selbstbestimmung, fest an der Seite ihrer Soldaten, wie in einem Volkskrieg, wird die Politik in der Bundesrepublik zu schweren Entscheidungen zwingen. Selbst wenn es den Regierenden gelingen sollte, die Nato und den Westen trotz der russischen Kriegsverbrechen aus den direkten Kämpfen herauszuhalten, werden die apokalyptischen Bilder aus den zerstörten Städten in der Ukraine sich als historisches Versagen tief in das gesellschaftliche Bewusstsein eingraben.

Vorbild Israel

Die Jungen müssen zur Kenntnis nehmen, dass es für Freiheit, Demokratie und unbeschwertes Wohlleben keine Ewigkeitsgarantien gibt. Sie müssen immer wieder neu begründet und verteidigt werden. Das ist jetzt hier keine moralisch überzogene Aufladung. Es ist die Zumutung, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Freiheit Opfer bis hin zum Einsatz des eigenen Lebens verlangen wird, wenn sie in ihrer Substanz bedroht ist. Die Israelis, die ihren Staat seit über 70Jahren militant verteidigen und trotzdem die einzige lebendige Demokratie im Nahen Osten geblieben sind, zeigen, dass eine solche Kampfbereitschaft Erfolg hat.

In der Bundesrepublik stehen nun Debatten an über die Wiedereinführung der Wehrpflicht, den Ausbau des Zivilschutzes, den Aufbau auch nuklear ausgerüsteter europäischer Streitkräfte in der NATO und die Weiterentwicklung der EU zu einer selbstverteidigungsfähigen Europa-Staatlichkeit. In diesen Debatten wird sich zeigen, ob die Bürger der Bundesrepublik bereit sind, für die Verteidigung ihrer eigenen Freiheit einzustehen.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.