Psychoanalyse des Fremdschämens: Ich sterbe vor Fremdscham!

Früher forderte man andere auf, sich zu schämen. Heute schämt man sich gleich selbst für sie. Was bedeutet das?

Foto: Zeloot

Von CHRISTIAN SCHNEIDER

»Schäm dich«, sagte meine Mutter und ich wurde rot. »Schämst du dich nicht?«, fragte der Klassenlehrer und ich schaute zu Boden. Kindertage. Die Scham aber höret nimmer auf. Sie begleitet uns von Kindesbeinen an: Neben der Angst ist sie eines unserer frühesten Gefühle.

»Der natürliche Schamreflex ist das Verbergen. In der Fremdscham wird das Beschämende offensiv ausgestellt.«

Christian Schneider

Im Erwachsenenleben war die klassische Formel, andere klein zu machen, lange Zeit der empörte Ausruf »Sie sollten sich schämen!«. Eben wegen des infantilen Ursprungs besitzt der Aufruf, sich zu schämen, buchstäblich kleinmachende, demütigende Tiefenwirkung. Insbesondere wenn er im öffentlichen Leben ins Spiel gebracht wird.

»Demütigung ist das aktive öffentliche Gesicht der Scham: Sie besteht darin, daß anderen aus einer feindseligen Einstellung heraus Schamgefühle aufgezwungen werden«, sagt die Philosophin und Gefühlsforscherin Martha Nussbaum. Und übergeht dabei den neuesten Trend. Denn heute ist es fast schon veraltet, jemanden zur Scham aufzufordern. Mittlerweile ist es in, ihm die Arbeit abzunehmen. Die neue Formel lautet: »Ich schäme mich für XY«.

Scham ist ein mögliches Selbstaufklärungsinstrument

»Fremdscham« ist ein Lieblingswort des identitätspolitisch aufgeladenen Neusprechs. Die neue Schamoffensive macht einen bemerkenswerten Umbauprozess ziviler Verhaltenscodes kenntlich. Nicht er oder sie soll sich schämen: Ich tue es, stellvertretend – angeblich um den anderen zu schonen. Aber mit triumphierend großgeschriebenem ICH. »Ich« sagen ist en vogue in einer Zeit, in der »Identität« und die darauf aufbauende »Erzählung« im Mittelpunkt des Diskurses stehen. Wobei leicht verloren geht, was ein Ich eigentlich ist – und welche Rolle es zum Beispiel in der Scham spielt.

»Ich ist ein Anderer«, sagt der große Psychoanalytiker Jacques Lacan. Und tatsächlich kann man die Realität dieser verwirrenden Aussage nirgends besser erfahren als in der Scham. Denn sie ist, in psychoanalytischer Terminologie gesprochen, das Resultat eines Konflikts zwischen Ich und Ich-Ideal, also einer Kollision meines realen Verhaltens mit den selbstgesetzten Normen. Ich schäme mich, wenn ich gegen die Regeln verstoße, die ich mir selber als Verhaltensideal gesetzt habe. In der Scham erfahre ich mich tatsächlich als ein anderer: als einer, der ich so nicht sein will. Und dieser andere, der doch ich bin, ist mir in seinem misslingenden Auftritt peinlich.

Wenn ich mich schäme, werde ich mir also gewissermaßen selber fremd. Ich trete mir gegenüber – und gerate damit zwangsläufig in einen inneren Dialog. Was die Chance impliziert, etwas von der Brüchigkeit meines Selbstbildes zu erfahren – und, sofern man mutig genug ist, Konsequenzen daraus zu ziehen. Scham ist in diesem Sinne ein mögliches Selbstaufklärungsinstrument.

Fremdscham ist zum Angriffsmodus einer identitätspolitisch moralisierten Gesellschaft geworden

Und Fremdscham? Ursprünglich war damit eine Form der Empathie gemeint: Sich in jemanden einzufühlen, der sich der von ihm verantworteten schämenswerten Aktion oder Situation nicht bewusst ist. Aus der eigenen peinlichen Berührtheit durch das Verhalten des anderen, resultiert eine stellvertretende Scham. Es ist eine modifizierte Art des Mitleids – auch wenn dabei ein Überlegenheitsgefühl (»Warum weiß der nicht, wie wahnsinnig peinlich sein Verhalten ist?«) mitschwingen mag. Sich für jemanden schämen folgt dem Ergänzungsprinzip.

Oder besser: folgte. Denn die heutige Verwendung des Begriffs Fremdscham zeigt einen tiefgehenden Bedeutungswandel an. Schämte man sich früher dafür, dass ein anderer sein peinliches Verhalten nicht wahrnehmen, nicht wahrhaben wollte, so ist heute Fremdscham der bevorzugte Mechanismus, Verfehlungen Anderer anzuklagen und sie bloßzustellen. Die Umwandlung des Satzes »Sie sollten sich schämen« in eine – scheinbare – Selbstanklage folgt dem fatalen Trend, sich in der Opferrolle zum moralischen Champion zu machen. Dass die Beschämung, die Demütigung demonstrativ einen Umweg über das eigene Ich macht, stellt dem Kläger ein glänzendes Zeugnis aus: Ich, der Unschuldige, nehme die Verfehlung des Gegenübers auf mich, indem ich mich an seiner statt schäme. Die vermeintliche Demut ist so nichts anderes als die neue Strategie, den anderen zu demütigen.

Fremdscham ist heute zum Angriffsmodus einer identitätspolitisch moralisierten Gesellschaft geworden, in der ICH der »Hort des Guten« ist, Fehlverhalten und Aggressivität hingegen immer »Sache der anderen«. Eine Feier der Subjektivität, die kein Außen mehr hat, durch das sie sich erst in ihren Grenzen erfahren könnte. In der Fremdscham ist der zentrale Modus des Schämens, die Auseinandersetzung mit dem Ich-Fremden in mir, dem internen Gegenspieler, außer Kraft gesetzt. Nicht ich, der seiner Identität gewisse, werde mir in der Scham fremd und entdecke mich als mein eigener anderer, sondern es sind immer »die Anderen«, die mich durch ihr Verhalten herausfordern. Sie verstoßen gegen die von mir hochgehaltenen Regeln der Menschlichkeit. In der Fremdscham entdecke ich nicht den anderen in mir, sondern zeige auf den, der ganz offensichtlich meine Normen nicht teilt, denn sonst würde er ja nicht so handeln, wie er handelt. Dieser andere ist tatsächlich im eminenten Sinn »der Fremde«: derjenige, der einem anderen Wertekosmos folgt; der – auch so könnte man es ausdrücken – nicht meiner Leitkultur entspricht. Fremdscham ist eine unauffällige Variation der Fremdenfeindlichkeit.

Offensiver Narzissmus als Ausgrenzungsstrategie

Der natürliche Schamreflex ist das Verbergen. In der Fremdscham dagegen wird das Beschämende offensiv ausgestellt: Bei mir, aber doch nur stellvertretend. Ich nehme etwas auf mich, das eigentlich andere tragen sollten. Offensiver Narzissmus als Ausgrenzungsstrategie ist ein klassisches Verhaltensstereotyp der Identitätspolitik. Denn meine Bereitschaft, stellvertretend die Gefühle zu offenbaren, die der andere haben sollte, zeigt eine Überlegenheit, die es mir erlaubt, ihn im Modus des Ich-sagens zu beschämen.

Leon Wurmser, der wichtigste psychoanalytische Schamtheoretiker, unterscheidet bei den strafenden Handlungen des Beschämens zwischen zwei Schritten. Der erste besteht darin, die Person bloßzustellen, sie »an den Pranger« zu stellen. Der zweite Schritt hingegen bewirkt, »die Person zum Verbergen zu bringen. Der Erniedrigte wird gemieden und ignoriert. Er wird in die Einsamkeit geschickt«. Man könnte auch sagen: Er wird isoliert, »abgeschoben«. Oder schlicht: So behandelt, wie man eben mit denen umgeht, die »nicht dazugehören«: die Fremden.

Fremdscham als demonstrativ verhaltensleitendes Element zeigt einen untergründigen Wandel unserer Kultur an. Die Bundesrepublik Deutschland als Nachfolgestaat des »Dritten Reichs« konstituierte sich wesentlich über den Umgang mit Schuld. Als »Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung« (Péter Esterházy) machte sie international Karriere – und formte nicht nur das offizielle Selbstbild. Wie mit der Schuld des Nationalsozialismus umzugehen sei, war der Zentralkonflikt zwischen der alten, in ihm großgewordenen und der Generation der Nachgeborenen, die heute summarisch als die der »68er« apostrophiert wird.

Fremdscham ist eine als Demut getarnte Allmachtsfantasie

Politisch war die Frontstellung eindeutig. Psychologisch liegt die Sache erheblich komplizierter. Schuldgefühle resultieren aus Konflikten zwischen dem Ich und im Über-Ich angesiedelten Normen, den Vorschriften also, wie wir als soziale Akteure sein sollen oder besser sein müssen, um legitimer Teil der Kultur zu bleiben. Bei der Scham als Konflikt zwischen Ich und Ich-Ideal dagegen geht es wesentlich darum, wie wir sein wollen. Die Differenz wird leicht übersehen – und ist gewaltig. In der Fremdscham schließlich wird ausgehandelt, wie wir »die Anderen« haben wollen. Es ist eine als Demut (ein im politischen Diskurs derzeit heftig strapaziertes Wort) getarnte Allmachtsfantasie. In ihr kann unauffällig das Ressentiment gegen alles von »unserer« Norm Abweichende gelebt werden, das die liberale Bürgerin offiziell selbstverständlich ebenso weit von sich weist wie der internationalistisch gesonnene Linke. Toleranz, so ihr gemeinsames Credo, sei doch das grundlegende Gebot der Demokratie! Insbesondere gegenüber »Fremden«.

Die Fremden sind die normativ Anderen. Sie stehen für die zivilgesellschaftliche Herausforderung, auch das zu ertragen, was von der eigenen Anschauung abweicht, was unserem Geschmack, unserer Urteilsstruktur, unserer Zustimmung und unserer routinierten Alltagsbewältigung zuwiderläuft. Um all das als Person auf den Prüfstand zu stellen, muss man freilich nicht aus Syrien, dem Niger oder Afghanistan kommen.

»Der Andere« in diesem Sinne ist nicht der bemitleidenswürdige Flüchtling aus Krisengebieten, sondern unser Nachbar. Der alltäglich unauffällige Unbekannte und doch irgendwie Vertraute, so fremd er uns in seinen Ansichten, die er mal gesprächsweise zwischen Tür und Angel äußert, auch erscheinen mag. Diese Fremdheit zu ertragen, ist die Basis jeder demokratischen Gesellschaft. Jedenfalls solange diese Ansichten nicht deren Grundlagen infrage stellen. Das aktuelle Fremdscham-Geschwätz indes tut es. Unauffällig, aber wirkungsvoll. Denn Fremdscham gibt vor, einen Kodex der »Anständigkeit« zu erfüllen, den sie in Wirklichkeit mithilfe eines gefälschten Gefühls bricht. Ihre Demütigungsstrategie ist die Basis der großen identitären »Erzählung«, die heute in aller Munde ist.

CHRISTIAN SCHNEIDER hat in Frankfurt eine Praxis für psychoanalytisches Coaching. Letzte Buchveröffentlichungen: Sahra Wagenknecht. Die Biografie. Campus 2019; Der Sprachlose Philosoph. Ludwig Wittgensteins Philosophie als lebensgeschichtliche Selbstreflexion. Königshausen und Neumann 2020

Dieser Beitrag ist in taz FUTURZWEI N°19 erschienen.

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