Prozess um tödliche Polizeischüsse: Ein Superbulle namens Rotti
Der Zivilfahnder Reinhard R. steht vor Gericht, weil er einen Kriminellen erschossen hat. Intern gilt er als leistungsstark, sein kalter Blick beeindruckt die Freunde des Getöteten.
"Der Motor war aus, als der Schuss fiel", versichert die 15-jährige Antonia S. Der Motor des Jaguars sei angesprungen, kurz darauf habe es geknallt, erinnert sich hingegen die 40-jährige Lehrerin Christiana L. Die Aussagen der Zeugen sind widersprüchlich. Dabei geht es um die entscheidende Frage im Prozess gegen drei Polizisten. Ist der 26-jährige Dennis J. mit einem Jaguar auf Beamte zugefahren, bevor er erschossen wurde? Dann wären die tödlichen Schüsse in Notwehr gefallen. Oder stand der Wagen noch, als die Schüsse fielen? Dann wäre es Totschlag.
Seit Anfang Mai versucht das Landgericht Neuruppin die Umstände aufzuklären, unter denen der Neuköllner Kleinkriminelle Dennis J. am Silvesterabend 2008 in dem brandenburgischen Örtchen Schönfließ von einem Berliner Polizisten erschossen wurde. Am heutigen Montag werden die Plädoyers von Staatsanwaltschaft, Nebenklagevertretern und Verteidigung erwartet. Möglicherweise fällt auch schon das Urteil.
Der 36-jährige Polizeikommissar Reinhard R. ist wegen Totschlags angeklagt. Der Zivilfahnder hatte sein ganzes Magazin - acht Schuss - leergefeuert, als er den per Haftbefehl gesuchten Dennis J. festnehmen wollte. Der hatte in einem gestohlenen Jaguar sitzend auf seine Freundin gewartet. Der tödliche Schuss wurde in einem rechten Winkel durch die Fensterscheibe der Fahrertür aus maximal 1,50 Entfernung abgegeben. Vor Gericht sagt R., er habe schießen müssen, weil sein Leben und das seiner zwei an dem Einsatz beteiligten Kollegen in Gefahr gewesen sei. Diese, ein 59-Jähriger und ein 32-Jähriger, sind wegen versuchter Strafvereitelung angeklagt. Sie sollen absichtlich weggesehen haben, um R. zu decken.
Sieben Menschen starben 2009 in Deutschland durch Polizeikugeln. 2008 waren es zehn, 2007 zwölf. Die Erfahrung ist: Verfahren werden in der Regel eingestellt, weil den Polizeischützen eine Notwehrlage zugutegehalten wird. Schon dass die Staatsanwaltschaft Neuruppin wegen des Falls Schönfließ Anklage wegen Totschlags erhoben hat, ist somit eine kleine Sensation. "Die Geschichte riecht", hatte ein hoher Beamter aus Brandenburg nach dem Vorfall zu Journalisten gesagt, als die Mikrofone aus waren.
Nach Dennis J. war mit drei Haftbefehlen schon seit längerer Zeit gefahndet worden. Der Neuköllner war, was man gemeinhin einen Strauchdieb nennt. Sein Strafregister wies 160 Eintragungen auf, zumeist Einbrüche und Diebstähle. Auch im Knast saß er schon. Wirklich schwere Taten hat er aber nie begangen. J. war schwer zu fassen. Einmal konnte er entwischen, weil er gegen einen Polizisten Pfefferspray eingesetzt hatte.
Der Polizeikommissar Reinhard R. ist ein großer, durchtrainiert wirkender Mann mit kurzen dunklen Haaren und gebräuntem Teint. Seit der Tat ist er vom Dienst suspendiert. Den Gerichtssaal betritt er in der Regel leise lächelnd und Kaugummi kauend. R. und seine mitangeklagten Kollegen Heinz S. und Olaf B. sind Zivilfahnder des Abschnitts 25 am Kurfürstendamm. R. habe es sich zur Hauptaufgabe gemacht, Haftbefehle zu vollstrecken, sagt der Abschnittsleiter vor Gericht. Allein 2008 habe R. 65 Beschuldigte gefasst. "Das ist außergewöhnlich viel." Es gebe Beamte, die brächten es im Jahr auf 20 Festnahmen. R. sei "ungewöhnlich leistungsstark". Mitte November 2008 hatte er die Fahndung nach Dennis J. übernommen. Eigentlich sei es kein Fall von besonderer Priorität gewesen, sagt der Abschnittsleiter. "Wir hatten schon mal einen, der wurde mit 19 Haftbefehlen gesucht."
Mit großem Engagement, Jagdeifer trifft es besser, machte sich R. an die Arbeit. Schon bald hatte er herausgefunden, dass sich der Gesuchte mit der 17-jährigen Andrea* aus Schönfließ trifft. Das Mädchen wohnt noch zu Hause, der Stiefvater ist Bundespolizist. An Weihnachten klärte R. die Eltern über den Umgang ihrer Tochter auf. Die reagierten geschockt und waren sofort einverstanden, als R. vorschlug, man könne Andrea als vermisst anzeigen und dann versuchen, über ihr Handy auch den Aufenthalt von J. zu orten. In Wirklichkeit wurde Andrea nicht vermisst. Dass solche Machenschaften nicht rechtsstaatlich sind, hatte R. schon bei anderen Fahndungen wenig interessiert.
Der 24-jährige Antonios S. ist ein guter Kumpel von Dennis J. Die beiden haben früher zusammen das eine oder andere Ding gedreht. Auch bei Antonios S. sprach R. mehrfach vor. "Er hat sich mir mit seinem Spitznamen Rotti vorgestellt", erzählt S. vor Gericht. Der Name komme daher, dass er mal einen Rottweiler gehabt habe. "Seine Augen gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte einen kalten Blick", sagt der Zeuge über R. Der Beamte sei ihm geradezu fanatisch vorgekommen: "Er wollte den Dennis auf jeden Fall." Als Antonios S. den Gerichtssaal verlässt, bleibt er kurz vor dem Angeklagten stehen und raunt: "Schäm dich!"
Der Schwager von Dennis J., der 29-jährige Gebäudereiniger Kemal K., berichtet im Zeugenstand von einem Telefonat mit R. "Der muss aufpassen, wenn wir ihn kriegen", habe R. gesagt. "Nicht, dass bei der Festnahme irgendwas Schlimmes passiert."
Der entscheidende Tipp kam aus Andreas Familie. Am Silvesternachmittag erhielt R. den Hinweis, dass der Gesuchte Andrea am Abend abholen werde. R. und sein Kollege Olaf B. warfen sich sofort in den Dienst-Opel. Unterwegs holten sie den kampfsporterprobten Kollegen Heinz S. ab. Die Zeit drängte so, dass S. nicht mal seine Dienstwaffe holen konnte. In Schönfließ wartete Dennis J. im silberfarbenen Jaguar auf seine Freundin. Um 18.14 Uhr überschlugen sich die Ereignisse. In weniger als 30 Sekunden feuerte R. sein ganzes Magazin leer. J. starb durch einen aus nächster Nähe abgegebenen Steckschuss in die Brust.
Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der erste Schuss der tödliche war und dass der Jaguar bei der Schussabgabe stand. Erst nach diesem Schuss habe der mit Kokain zugedröhnte J. den Wagen angelassen und versucht zu fliehen. Er kam 200 Meter weit. Dann brach er tot hinter dem Steuer zusammen.
Die Verteidigung hingegen argumentiert, dass das Auto gefahren sei und den Beamten S. "durch eine Art Stoß" zu Fall gebracht habe. Die Schüsse seien in Notwehr abgegeben worden.
Im Verlauf des Prozesses hat sich der Eindruck verdichtet, dass sich das genaue Geschehen vor Ort nicht mehr aufklären lässt. Die beiden wichtigsten Zeuginnen widersprechen sich. Auch aus den Gutachten der Sachverständigen lässt sich keine Klarheit ableiten.
Denn Polizei und Kripo sind bei den Ermittlungen extrem viele Pannen unterlaufen. Der gravierendste Fehler war, dass in der Tatnacht nur eine ungefähre, aber keine detailgenaue Zeugenvernehmung erfolgte. Es fehlen Unterschriften auf den Vernehmungsprotokollen, Tatortskizzen sind nicht mehr zuzuordnen. Zwei der acht Patronenhülsen wurden erst Tage später bei der Tatrekonstruktion entdeckt. Sie waren an der Heckscheibe und in der Scheibenwischermulde des Polizei-Opel festgefroren.
Statt den Beschuldigten R. nach dem Vorfall von seinen Kollegen zu trennen, saßen die drei Beamten stundenlang zusammen in der Polizeiwache Hennigsdorf. Es bestand also Gelegenheit, die Verteidigungsstrategie abzusprechen. Zudem wurde R. wurde von einem Brandenburger Kollegen so oft belehrt, dass er die Aussage verweigern könne, bis er kapiert hatte, dass es besser ist, den Mund zu halten.
Normalen Beschuldigten ergeht es anders, zumal wenn sie in Neukölln wohnen und einen Migrationshintergrund haben. Dennis J.s Freunde, die den Prozess als Zuschauer verfolgen, wissen, wie das ist. Der eine oder andere hat im Knast gesessen. Fragt man die jungen Männer nach ihren Erfahrungen mit der Polizei, lautet die Antwort: "Wir werden grundsätzlich verdächtigt und schikaniert." Sie haben den Eindruck, dass mit zweierlei Maß gemessen wird, wenn Polizisten angeklagt sind. Warum, so fragen die Freunde des Getöteten, hat das Gericht ausgerechnet den Unfallsachverständigen Ulrich Wanderer zum Gutachter bestellt, der in der gleichen Sache für R.s Verteidiger ein Privatgutachten gemacht hatte?
Wenn das Gericht das Urteil fällt, kommen drei Möglichkeiten in Betracht: R. wird im Sinne der Anklage des vorsätzlichen Totschlags oder wegen fahrlässiger Tötung schuldig befunden. Die dritte Variante wäre: Freispruch, nach dem Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten. Egal, wie das Gericht entscheidet, eines ist sicher: Den Geruch, dass er ohne Not einen fliehenden Eierdieb abgeknallt hat, wird R. nicht mehr los.
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