Proteste in Rumänien: Korruption, Hunger und Zorn
Ecaterina Gheorghe isst oft nur noch Brot mit Essig und Salz. Jetzt protestiert sie mit Tausenden Rumänen und fordert den Rücktritt der Regierung.
BUKAREST taz | In der Innenstadt, nahe der Prachtallee Calea Victoriei mit ihren Luxusläden, steht die 72-jährige Ecaterina Gheorghe täglich zehn oder sogar elf Stunden, um den Autofahrern beim Einparken zu helfen. Ein bis zwei Leu, etwa 20 bis 40 Cent, geben ihr die Autofahrer dafür, oder etwas zu essen.
Gheorghe kennen alle in der Gegend. Ein Leben lang hat sie sich als Tellerwäscherin verdingt und Straßen gekehrt. Ihren Besen trägt sie heute noch bei sich. Jetzt erhält sie monatlich 500 Lei Rente, etwa 116 Euro. Eine Summe, die in Bukarest nicht zum Leben reicht, auch wenn sie über der Mindestrente von 81 Euro liegt.
Die Rentnerin kann damit nicht einmal die Nebenkosten für ihr inzwischen verfallenes Haus zahlen, das sie wie die meisten Rumänen gleich nach der Wende gekauft hat. Deshalb steht sie täglich bis zum Abend auf der Straße.
Der Auslöser: Mit der Reform des Gesundheitssystems sollte auch der Rettungsdienst privatisiert werden. Ein Vorhaben, bei dem viele Rumänen fürchteten, dass sie sich den Dienst nicht mehr leisten könnten.
Der Kritiker: Der Notfallmediziner Raed Arafat, ein rumänischer Bürger palästinensischer Abstammung, hatte als Unterstaatssekretär im Gesundheitsministerium das Vorhaben öffentlich kritisiert. Arafat, der 1990 den Rettungsdienst SMURD aufbaute, trat zurück, als er von Präsident Basescu gescholten wurde - während einer TV-Sendung, bei der sich Basescu dazuschalten ließ. Arafats Kritik: Bei der Privatisierung würden die Mittel des Rettungsdienstes so gekürzt, dass dieser nicht mehr zuverlässig arbeiten könne.
Die Proteste: Die anfänglichen Solidaritätsbekundungen für Arafat, erstmals am 13. Januar in der Stadt Târgu Mures - dem Sitz der Zentrale des SMURD-Rettungsdienstes -, haben sich zu landesweiten Protesten gegen Armut, Korruption und das Sparpaket der Regierung ausgeweitet.
Die Opposition: Die Opposition aus Sozialdemokraten und Liberalen setzt große Hoffnung in die Proteste und will ab Mittwoch von allen Parlamentsaktivitäten fernbleiben. Begründung: Die Regierung verweigere den Dialog darüber, wie unzufrieden die Bürger mit ihrer materiellen Lage seien. Die Opposition fordert vorgezogene Neuwahlen, regulär sind im Herbst Parlamentswahlen. (mc)
Der Eingang ihres Hauses hat weder Türen noch Fenster. Durch die Dunkelheit - Glühlampen gibt es keine und Strom ist teuer - steigt sie schwer atmend die zwanzig Stufen hinauf. In ihrem schmalen Wohnzimmer hat sie einen Ofen, auf dem Tisch liegt ein Wachstuch, darauf ein halbvolles Glas mit sauren Gurken. Außer einem kleinen Schlafzimmer nebenan ist das alles, was sie im Haus noch besitzt.
Nahrung oder Seife
Ecaterina Gheorghe setzt sich auf einen kleinen Stuhl und ordnet schnell ihr Kopftuch, die Mütze darunter, die zwei Pullover, ihren Rock und die Schürze mit den kleinen blauen Blumen. "Sehen Sie, ich bin sauber. Manchmal ess ich den ganzen Tag nichts, um Seife und Waschpulver kaufen zu können." Ecaterina schaut traurig durchs Fenster auf die anderen Häuser, in denen betuchte Leute wohnen. "Manchmal gehe ich für meine Nachbarinnen einkaufen. Sie geben mir Geld dafür."
Rettung in letzter Not ist für sie oft der "Verein für gegenseitige Hilfe", eine Art Kreditinstitut für Rentner. Sie borgt sich dort 50 Lei, kaum 12 Euro. Gewöhnlich macht sie das zu Weihnachten und zu Ostern. Auch im Herbst, um Gurken und Weißkohl zu kaufen, um sie einzulegen und lange davon zu zehren. "Die Regierung bringt uns Rentner aufs Sterbebett", sagt Gheorghe. "Ich weiß, dass ich nur eine einfache Putzfrau war, die über dreißig Jahre für den Staat gearbeitet hat, aber auch ich bräuchte eine Rente, mit der ich überleben kann."
Heute hat Ecaterina lediglich Brot im Haus, denn sie musste Medikamente und den Strom bezahlen. "Ich tunke mein Brot in Essig mit Wasser und Salz und schon vergeht mir der Hunger", sagt die Rentnerin, die auch am Universitätsplatz protestiert hat.
Ecaterina Gheorghe ist kein Einzelfall. 4 Millionen der 22 Millionen Rumänen sind Rentner. Die Durchschnittsrente liegt bei 760 Lei, etwa 170 Euro. "Schon damit leben die meisten in bitterer Armut, nicht zu reden von denen, die darunter liegen", sagt der 81-jährige Dumitru Cojanu, Leiter eines Rentnervereins in Bukarest. Cojanus Büro liegt am Nordbahnhof. Ein Tisch mit Stuhl, ein altes Radio, an der Tür ein Vorhang, der die Risse verdeckt, an der Wand ein Kalender, darauf ein Lamm, daneben steht geschrieben: "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln."
Nicht mal Respekt kriegen die Rentner
"Den Rentner, die ein ganzes Leben gearbeitet haben, fehlt vieles", sagt Cojanu, "doch vor allem vermissen sie Respekt bei den Regierenden." Cojanu hat Briefe an drei aufeinanderfolgende Arbeitsminister geschickt, in denen er die Lage der Rentner geschildert hat. "Eine Antwort habe ich von keinem bekommen." Jetzt bereitet Cojanu eine Protestveranstaltung für Rentner vor. "So geht's nicht weiter."
Die Renten wurden 2009 eingefroren, doch die Inflationsrate von mehr als 3 Prozent kommt einer Rentenkürzung gleich, zudem wurde die Mehrwertsteuer von 19 auf 24 Prozent erhöht. Aber nicht nur Rentner spüren die Krise, die Beamtengehälter wurden um ein Viertel gekürzt und etwa 200.000 Stellen im öffentlichen Dienst abgebaut.
Aus Ärger über die sozialen Einschnitte und die Korruption gehen seit Mitte Januar Tausende Menschen auf den Universitätsplatz. Sie rufen "Freiheit", skandieren "Wir wollen keine Vetternwirtschaft mehr und keine Korruption". Auf einem Transparent steht: "Wir produzieren nicht so viel, wie ihr stehlt! Rumänien, erhebe dich!" Auf einem anderen: "Hunger und Armut haben Rumänien im Griff".
Die Proteste ausgelöst hat ein Gesetz, das unter anderem die Privatisierung eines landesweiten staatlichen Rettungsdienstes vorsah. Viele fürchteten, dass die Rettungswagen künftig nur noch für reiche Leute fahren. Wenig später ruderte die Regierung zurück, die Proteste aber blieben.
Unweit vom Universitätsplatz liegt die Zentrale des Rettungsdienstes S.A.B.IF. Angesichts der Sparmaßnahmen bräuchte der Dienst selbst Hilfe. Die Gehälter wurden um ein Viertel gekürzt. Zehntausende Mediziner haben das Land verlassen und arbeiten jetzt in Italien, Spanien, Großbritannien, auch in Deutschland.
Seit elf Jahren Sanitäter
Mihai Moraru ist 39 Jahre alt und seit mehr als elf Jahren Sanitäter. Im Krankenwagen, der durch Bukarest saust, bereitet er sich auf einen Notfall vor. Im Rettungswagen, ausgestattet mit deutscher Medizintechnik, ist jedes Schlagloch zu spüren. "Ich hätte die Möglichkeit, in Frankreich zu arbeiten, habe mich aber entschlossen, hier zu bleiben. Rumänien ist mein Zuhause", sagt Moraru. "Wir sind hier beim Rettungsdienst mit ganzem Herzen dabei, auch wenn die Gehälter klein sind." Ein Sanitäter verdient zwischen 900 und 1.800 Lei, etwa 210 bis 420 Euro.
Cristian Grasu, der Leiter des Rettungsdienstes, klagt über fehlendes Personal. Nicht nur dass viele ins Ausland gegangen sind, er darf wegen des kleinen Budgets auch kein neuen Mitarbeiter einstellen. Grasu, ein Mann mit weißgrauem Bart, arbeitet seit fast 37 Jahren für den Rettungsdienst. "Sollte der Rettungsdienst privatisiert werden, dann würden wir nicht gegen eine ehrliche Konkurrenz kämpfen. Denn dann gebe es auf der einen Seite uns als Staatsangestellte mit gekürzten Gehältern, und auf der anderen Seite andere Privatfirmen, die ihre eigene Lohnpolitik betreiben."
Trotzdem zeigt sich Grasu optimistisch. "Das Rettungssystem funktioniert in Rumänien seit 106 Jahren. Es hat im Kommunismus funktioniert und jetzt im Kapitalismus. Den Rettungsdienst wird es auch weiterhin geben."
"Basescu heißt Armut, Arbeitslosigkeit und Schulden!", rufen derweil die Menschen auf dem Universitätsplatz, sie fordern den Rücktritt von Präsident Basescu. Viele haben die Korruption satt. Im Gesundheitssystem haben sie die meisten schon gespürt: "Jeder Rumäne weiß, dass theoretisch die Versorgung in den staatlichen Krankenhäusern kostenlos ist, doch machen die meisten Ärzte keinen Finger krumm, wenn man kein Schmiergeld zahlt", erzählt eine Frau.
"Jeder kennt die Preise", sagt sie. "Zwei Euro muss man der Krankenschwester zahlen, damit sie einen überhaupt beachtet, und einen Euro der Putzfrau, damit sie frische Bettwäsche bringt. Vom Geld für eine Operation ganz zu schweigen". Das liegt in der Regel zwischen 125 Euro und 500 Euro.
Wie marode inzwischen die Verhältnisse sind, zeigt ein Brand im August 2010. In der renommierten Bukarester Giulesti-Geburtenklinik kamen sechs Frühchen ums Leben, weitere sechs erlitten schwere Verletzungen. Brandursache war eine provisorisch verlegte Stromleitung. Möglicherweise hätte die Tragödie verhindert werden können, wenn die zuständige Krankenschwester bei Ausbruch des Feuers auf Station gewesen wäre. Sie war jedoch auf einer Geburtstagsparty, die auf dem Klinikgelände gefeiert wurde.
Sechs tote Frühchen
Der Prozess, den Eltern gegen die Klinik anstrengt haben, läuft noch. "Wir gehörten damals zu denjenigen, die noch Glück hatten", sagt Alin Cornean. Der 30-Jährige ist Vater eines Kindes, das überlebt hat, allerdings mit dauerhaften Folgeschäden. Die Frühchenstation wurde inzwischen renoviert, die beschuldigte Krankenschwester saß zeitweilig in Haft, inzwischen arbeitet sie wieder in der Klinik.
"Es hat sich nichts Grundsätzliches geändert. Die Menschen sind die gleichen geblieben", sagt Cornean. "Wenn du den Ärzten kein Schmiergeld gibst, behandeln sie dich genauso miserabel wie vorher." Er solidarisiert sich mit den Demonstranten vom Universitätsplatz, obwohl er keine Zeit hat, sich unter sie zu mischen. An ihren Erfolg glaubt er aber nicht: "Gut, die Regierung soll gehen, aber wer soll stattdessen kommen? Ich sehe keine bessere."
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