■ Programm verhandelt, Kanzler gewählt: Die Koalition als Selbstzweck
Ganze zwei Stimmen haben Helmut Kohl bei seiner fünften Kanzlerwahl vor einem Desaster bewahrt. Von der Selbstsicherheit, die er normalerweise zur Schau zu stellen pflegt, war während der Abstimmungspause im Bundestag nicht allzuviel mehr übrig. Nur im nachhinein durfte Kohl noch einmal erleichtert alle Zweifel beiseite schieben. Doch wie das Wahlergebnis vom 16. Oktober so geriet auch die Kanzlerkür zum ambivalenten Ereignis: Es reicht – aber reicht es? Wenn Kohl und seine Getreuen ihre schmale parlamentarische Basis jetzt immer wieder mit Hilfe einer Tautologie – „Mehrheit ist Mehrheit“ – zu beschönigen suchen, demonstrieren sie nur, daß sich in dieser Legislaturperiode alles um die Selbsterhaltung drehen wird. Mehrheit ist nicht mehr die notwendige Voraussetzung für politische Handlungsfähigkeit. Vielmehr scheint sich die Politik der Koalition einzig unter dem harten Kriterium bewähren zu wollen, das dünne Polster nicht zu gefährden. Damit allein wird sie schon voll ausgelastet sein.
Eine Kostprobe hiervon haben bereits die Koalitionsverhandlungen erbracht. Machterhalt, aber wofür? Überraschend „schnell und geräuschlos“ habe man sich geeinigt, lautet das stolze Resümee. Doch die geschwinde Harmonie der Verhandlungen geht ganz zu Lasten ihrer Ergebnisse. Zumutungen müssen ausgeklammert, die allbekannten Konfliktpunkte mit gezwungenen Kompromissen zugedeckt werden. So erstellt man Wahl-, keine Arbeitsprogramme. Alles steht unter der Prämisse: gegenseitige Rücksichtnahme in einem fragilen Bündnis. Und wo die Agenda einmal nicht auf Unverbindlichkeit abonniert bleibt, gerät das Programm zur Peinlichkeit. Was da statt der lange versprochenen Erleichterung bei der Integration von Ausländern zusammengezimmert wurde, zeugt von der bornierten Unbeweglichkeit der Union wie von einer FDP, die auch vor hybriden Konstruktionen nicht zurückschreckt, nur um zu signalisieren, sie sei schließlich auch noch da. Am Ende demonstriert dies nur die Reformunfähigkeit beider.
Ein prototypisches Vorgehen. Es zeigt an, daß die politische Substanz der Koalition aufgebraucht ist. Es ist deshalb nur Beschönigung, wenn Kohl nach seiner Wahl auf die ebenfalls knappen Mehrheiten seiner Vorgänger Adenauer, Brandt und Schmidt verweist. Zur Not lassen sich auch mit knappen Koalitionsmehrheiten gemeinsame Ziele verwirklichen. Aber wo sich die Gemeinsamkeit auf den festen Willen zum koalitionären Überleben reduziert, tendiert der Spielraum für Politik gegen Null. Das jedoch wird für die alt-neuen Partner um so bedrohlicher, weil über den aktuellen Problemdruck längst nicht mehr gestritten werden muß. Chronische Finanzkrise, Zukunft des Sozialstaates – die Kapitelüberschriften sind in aller Munde. Wie lassen sich Steuern und Abgaben senken und zugleich die Staatsfinanzen konsolidieren? Wie lassen sich schwindende Sozialausgaben verkraften, wenn nicht zugleich die soziale Integration der Republik aufs Spiel gesetzt werden soll?
Politik zwischen Scylla und Charybdis. Um da hindurchzukommen, bräuchte es mehr als überlebenswillige Koalitionäre. Daß das gelingen könnte mit einer Union, die sich ab jetzt auf die Zeit nach Kohl einstellen muß, ist ebenso zweifelhaft wie die Zuversicht auf die Regenerationsfähigkeit der siechen Liberalen. Daß Kohl noch einmal Kanzler werden würde, darauf haben fast alle gewettet. Daß er seine Ära erfolgreich zu Ende bringt, wirkt zu Beginn seiner letzten Amtsperiode eher wie ein Außenseitertip. „Mehrheit ist Mehrheit?“ – Aber wie lange? Matthias Geis
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