Press-Schlag: Kumbernussen raus?
■ Zürich war eine rauschende Nacht – kann aber nicht alleinige Zukunft sein
Nur für den Fall, daß Primo Nebiolo es in Athen noch immer nicht mitgekriegt haben sollte, hat man dem Präsidenten des Internationalen Leichtathletikverbandes (IAAF) nun in Zürich noch einmal extradeutlich vor Augen geführt, wie der Hase läuft.
100.000 Dollar pro Weltrekord hatte Nebiolo ausgesetzt, um seine WM nicht bloß zum größten und längsten, sondern auch spektakulärsten Sportfest weit und breit zu machen. Ergebnis nach zehn langen Tagen: Zero. In Zürich hat es am Mittwoch abend kaum zweieinhalb Stunden gedauert. Ergebnis: drei Weltrekorde à 50.000 Dollar plus ein Kilo Gold. „Eine großartige Gala“, schrieb die Neue Zürcher Zeitung gestern ganz entrückt. Es war tatsächlich ein Erlebnis, das einen selbst im Fernsehsessel kurzatmig machte, mit immer neuen Tempoverschärfungen, so daß man am Ende keuchend zurückblieb wie Dieter Baumann im Ziel des 5.000-m-Laufs und sozusagen mit dem neuen Europarekordler nur noch japsen mochte: „Es war unglaublich.“
Da verbessert Weltmeister Wilson Kipketer (Dänemark) den 800-m-Weltrekord, den er selbst und der Brite Sebastian Coe hielten, um eine halbe Sekunde auf 1:41,24 Minuten. Da hängt der in Italien trainierende kenianische Außenseiter Wilson Boit Kipketer den großen Laufchef Kenias, Moses Kiptanui, ab und raubt ihm nach dem WM-Titel auch noch den Weltrekord über 3.000 m Hindernis (7:59,08). Dann aber kommt im bemerkenswertesten Rennen des Jahres auch noch Haile Gebresilasie und verbessert seinen eigenen 5.000-m-Weltrekord um knapp drei Sekunden auf 12:41,86 Minuten. In Zürich (Etat: 5,4 Millionen Franken), so scheint es, ist alles möglich, selbst daß 5.000-m-Weltmeister Daniel Komen den Hasen für Gebresilasie macht. Unfreiwillig – oder auch nicht. „Der Sieger hat nicht viel fürs Tempo gemacht“, moserte der Kenianer. Wozu, das tat er ja. „Das Rennen ist für Gebresilasie gemacht“, hatte Dieter Baumann schon vorher gesagt. Komen wußte das – und machte mit.
Es war also eine rauschende Nacht – was aber nicht heißt, daß sie in allen Bereichen beispielhaft wäre. Ein Golden Four-Ereignis, vom Rechtevertreiber Ufa fernsehkompatibel gemacht, besteht aus ausgewählten Disziplinen. Nationale Verbände sind außen vor, gut, die Geschäfte machen internationale Manager, okay. Die dreißig Topathleten werden im Paket eingekauft. Aber: Arme Kerle, wie Diskuswerfer, dürfen ins Vorprogramm – gut? Andere läßt man erst gar nicht mittun. „Mir ist es egal, ob das einer Zirkus nennt“, sagt etwa Gebresilasies Manager Jos Hermens.
Wollte eine WM, statt sich andere Werte zu suchen, circensisch mithalten, müßte man auch die Kumbernussen alle rauskegeln – und, zum Beispiel, einen deutschen Hindernisläufer anstellen, um einem Kenianer den Weltrekord zu ermöglichen. Noch ist es nicht soweit. Aber Nebiolo arbeitet daran, und Zürich wird ihn bestätigen. pu
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