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■ Press-SchlagAue ohne Krater

In der Saison 1985/86 saß ich im erzgebirgischen Aue bei Oberligaspielen mehrmals neben einem alten Mann. Aus dem kleinen Ort Einsiedel war er mit dem Zug gekommen. Sein Gehör war nicht mehr das beste; die Augen zeigten ihm auch längst nicht mehr alles, was auf dem Spielfeld vor sich ging. Aber er war mit Leib und Seele dabei und machte sich Sorgen um die Spielweise seines Lieblingsvereins BSG Wismut Aue. Voller Stolz berichtete er, daß er einen Brief an die Betriebssportgemeinschaft geschickt und prompt Antwort erhalten hatte. Er wurde eingeladen und durfte mit den Spielern sprechen, die seine Auffassungen sogar teilten.

Der betagte Fußballfan mit den klugen taktischen Ratschlägen war Gast bei einem der traditionsreichsten ostdeutschen Vereine gewesen. 1947 gegründet, stieg die Mannschaft Jahr für Jahr eine Spielklasse höher bis zur DDR-Oberliga 1951. In den fünfziger Jahren folgte die beste Zeit für die BSG mit drei DDR-Meistertiteln, einem Pokalsieg und Europacupspielen. Unvergessen das Spiel der deutschen Meister Aue – Kaiserslautern im ausverkauften Leipziger Zentralstadion vor 100.000 Fans mit dem legendären Hackentor von Fritz Walter. In jener Zeit mußte die BSG Wismut Aue unter dem Namen SC Wismut Karl-Marx-Stadt antreten, um die neue Bezeichnung für Chemnitz bekannt zu machen.

Später spielte Wismut nur eine untergeordnete Rolle, blieb aber immer in der höchsten DDR-Klasse, was andere Traditionsvereine wie Chemie Leipzig oder Sachsenring Zwickau nicht schafften. Ein Comeback im internationalen Geschäft glückte dem Team, das den Namen Wismut aus dem Uranabbau für sowjetische Atomraketen und Kernkraftwerke erhielt, Mitte der achtziger Jahre. In der 2. UEFA-Cup- Runde schied man 1987 jedoch gegen Flamurtari Vlora aus Albanien aus, das immerhin danach auch dem FC Barcelona große Probleme bereitete.

Der große Krach begann für das erzgebirgische Team 1989. Drei Spieler setzten sich bei einem Spiel in Schweden nach Westdeutschland ab. Als noch herauskam, daß 1988 der Abstieg mittels Bestechung verhindert werden sollte, brachen Mannschaft und Klubführung auseinander. 1990 stieg der Verein erstmals in seiner Geschichte ab. Unfaßbar für viele.

Ein Fan aus Jahnsdorf, knapp 20 Kilometer von Aue entfernt, ging von einem Tag auf den anderen nicht mehr ins malerische Stadion, das die französische Zeitung L'Equipe einst den „Krater von Aue“ nannte. Der Mann, jetzt 50 Jahre alt, war jahrelang bei jedem Heimspiel gewesen und so frustriert, daß er von Stund an seine Sonnabende dem heimischen Garten widmete. Jetzt hat er noch mehr Zeit dazu, weil er als Ingenieur im krisengeschüttelten Sachsen keine Arbeit findet. Ihm geht es so wie rund 20 Prozent offizieller Arbeitslosen der Region. Was bleibt den Menschen? Die schöne Gegend ist wohlbekannt, Freizeitaktivitäten sind seit jeher durch viel zu wenig Angebote beschränkt. Manch einer geht noch ins schöne Erzgebirgsstadion, wenn er sich als Arbeitsloser die vier Mark für die neue Tribüne leisten kann.

Als 1985 Eintracht Braunschweig zum Intercupspiel in Aue gastierte, war Gäste-Trainer Willibert Kremers des Lobes voll: „Wenn ich die Arena mitnehmen könnte, würde ich das sofort tun. Und die Begeisterung der Menschen!“ 25.000 sahen damals ein 3:2 für Aue. Dies war vor der Renovierung...

Das 1950/51 in einer Blitzaktion von deutschen und russischen Arbeitern erbaute Stadion wurde seit Mitte der achtziger Jahre von Grund auf erneuert. Nun schmücken eine moderne grüne Anzeigetafel und vier schlanke Flutlichtmasten sowie eine weitgezogene Tribüne den schönen Rasen. Der FC Erzgebirge Aue, wie sich die Mannschaft inzwischen nennt, verfügt jetzt sogar über VIP-Kabinen und eine neue, im rustikalen Stil gehaltene Gaststätte direkt in der Arena. Obwohl Aue in der Amateuroberliga Süd nur auf Platz drei steht, zeigen die Sterne den Weg Richtung bezahlter Fußball. Trainer Lutz Lindemann, ein früherer Nationalspieler, hat eine junge Mannschaft um sich geschart, die etwas erreichen will und um ihren Arbeitsplatz kämpft wie in alten Zeiten, als mancher Spieler als Beruf „Hauer“ angab. Über 50 Sponsoren – besonders aus der Region – sorgten dafür, daß an einen Konkurs, wie er 1992 zu befürchten war, momentan nicht zu denken ist. Der FC Erzgebirge will das Stadion inklusive Großfeldhalle und zwei Nebenplätzen sogar von der Stadt Aue kaufen.

Zur Zeit verfolgen zwischen tausend und dreitausend Besucher die Spiele. Obwohl es wieder aufwärts geht mit dem Fußball in Aue, dürfte es jedoch eine Weile dauern, bis das Stadion mit 26.000 Besuchern wieder einmal ausverkauft sein wird. Jens Starke

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