■ Press-Schlag: Plötzlich ganz dicke
Der Drei-Zentner-Mann, der mir auf der Tribüne des Goodison Park in Liverpool begeistert um den Hals gefallen war, roch nach Bier und Schnaps. Er hielt mich für einen Fan des FC Everton, weil ich mir vorsichtshalber einen blauen Pullover angezogen hatte. Die „Blues“ hatten soeben einen Elfmeter zugesprochen bekommen. Kaum hatte Graham Stuart den Ball versenkt, drückte mich der Dicke wieder an sich. Noch war Everton nicht verloren.
Dabei hatten die Anhänger bisher wenig zu lachen. Sie waren zum Saisonschluß in Scharen gekommen. Das Stadion platzte mit gut 31.000 Zuschauern aus allen Nähten, weil die alte Tribüne an der Kopfseite abgerissen worden war. Wenigstens konnte man dadurch das Spielfeld vom gegenüberliegenden Stanley Park sehen – wenn man auf einen Baum kletterte. Everton mußte gegen das starke Team aus Wimbledon gewinnen, um dem Sturz in die zweite Liga nach 40 Jahren Erstklassigkeit zu entgehen. Darüber hinaus war man darauf angewiesen, daß nicht alle Konkurrenten um den Abstieg ihre Spiele gewannen.
Drei Minuten nach Spielbeginn fing Evertons schwedischer Nationalspieler Anders Limpar völlig grundlos einen Eckball mit der Hand ab. Den fälligen Elfmeter verwandelte Wimbledon zum Führungstreffer. Als Gary Ablett nach 20 Minuten ein sehenswertes Selbsttor hinzufügte, schien es um Everton geschehen. Drei Tore in 70 Minuten? Dafür hatte das Team zuletzt neun Spiele benötigt. Der Elfmeter für Everton, den Limpar mit einer Schwalbe herausgeschunden hatte, gab wieder Hoffnung. Doch die Fans, die Everton unermüdlich und mit ohrenbetäubender Lautstärke anfeuerten, mußten bis Mitte der zweiten Halbzeit auf den Ausgleich warten. Dann jagte Barry Horne das Leder aus 30 Meter Entfernung in den Dreiangel. Es war sein erstes Tor in dieser Saison. Und wieder griff mein schwergewichtiger Tribünennachbar nach mir und herzte mich, als hätte ich das Tor geschossen. Als Stuart dann acht Minuten vor Spielende mit einem schlappen Schuß den Siegtreffer erzielte, war ich – für diesen Tag jedenfalls – längst zum Everton-Anhänger geworden, schon alleine wegen der Fans. Diesmal fiel ich dem Dicken um den Hals. Nach dem Schlußpfiff regierte das Transistorradio. Ipswich hielt ein Unentschieden, Southampton ebenfalls. Dann kam die Nachricht, daß Chelsea in der Nachspielzeit gegen Sheffield United das Tor zum 3:2 geschossen hatte – Sheffield muß mit Oldham und Swindon in die zweite Liga. Im Goodison Park wurde der Nichtabstieg Evertons mindestens ebenso begeistert gefeiert wie am Old Trafford die Meisterschaft von Manchester United. Zehn Millionen Pfund sollen investiert werden, um die „Blues“ nun zu verstärken. Nach der gerade abgelaufenen Saison zu urteilen, ist das auch bitter nötig. Ralf Sotscheck
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