■ Press-Schlag: Linke Szene sucht: Individualisten!
Fast möchte man ja meinen, Fußballgucken sei political correct geworden. Es gibt zwar noch ein paar Tabus (Vogts ist doof, Matthäus ist doof, Kamerun und Nigeria sind sooo toll), aber schon bei Völler durfte der Fußball- Szene-Enthusiast mal jubeln, bei Klinsmann noch lauter, weil: der Klinsmann ist ja bekanntlich „Individualist“.
Klinsmann ist mal mit Rucksack verreist und kann zwei Sätze ohne Fehler sprechen; kann sich so schön freuen, ist irgendwie freier als die anderen. Dankbar wird schon jede halbwegs unkonforme Äußerung als Zeichen von Eigenständigkeit aufgenommen (Köpke!), und läßt ein berufsmäßiger Kicker gar mal neben dem imagefördernden „Ja, sicherlich, ich meine, mein Freund ist Ausländer“ eine politische Aussage halblinks der Mitte fallen (Ewald Lienen!), wird er von kritischen Fußballfreunden gerne jahrzehntelang als Vorzeigedenker präsentiert.
Bei der Suche nach den großen Individualisten wird auch in kritischen Zirkeln gern das Lied der guten alten Zeiten der Nationalmannschaft angestimmt, und es fiel jüngst auch in den sich fußballmäßig kritisch gebärdenden Medien (u.a. zitty, konkret) immer wieder ein Name: Günter Netzer.
Er war ein guter Spielmacher, auch mal mit genialen Pässen, einverstanden, aber wenn seine langen Haare und sein Ferrari ins Feld geführt werden, um aus ihm einen Rebellen zu machen, wird's grotesk. Netzer selbst hat dieses Image, das die Intellektuellen ihm aufdrücken wollten und wollen, nie verstanden.
Um aber bei der Suche nach den wahren Individualisten behilfich zu sein: Es sind die Vize-Weltmeister von 1982 (... als Fußballgucken noch igitt war und eine Großbildleinwand in Kreuzberg wohl keine 90 Minuten überlebt hätte), verkannt und vergessen – wer redet heute schon noch von Wolfgang Dremmler, Felix Magath oder Bernd Förster?
Wenn stimmt, was Vogts jüngst verriet, daß nämlich während der WM in Spanien vormittags manchmal „kein Training stattfinden konnte, weil die Mannschaft noch besoffen war“, dann gilt dem verkannten 68er Jupp Derwall (später wird man sich an ihn als dem Bundestrainer mit der antiautoritären Erziehung erinnern) sowie dem gesamten Kader meine vollste Bewunderung: die Nächte durchfeiern, sich mit Österreich klug die Bälle hin- und herschieben (warum hatte die blöde FIFA die letzten Gruppenspiele nicht zeitgleich angesetzt?) und dann bis in Endspiel vortorkeln – das nenne ich individuell!
Kalle, Vizeweltmeister von 1982: Respekt! „muß man sagen“ (Rummenigge)!
Und wollt ihr wissen, ihr Helden von Madrid, welches Netzers einzigstes WM-Spiel seiner Karriere war? Na? Richtig: BRD – DDR: 0:1! Eingewechselt in der 69. Minute. Und wann traf Sparwasser? 78.! Ha, Netzer, daß ich nicht lache! Christoph Jungmann
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