Portrait Michael Naumann: Der Abenteurer
Michael Naumann war schon vieles in seinem Leben: Journalist, Verleger, Kulturminister. Jetzt will er auch noch Hamburgs Bürgermeister werden.
Am 6. März 2007, kurz vor Mitternacht, hat Michael Naumann Ja gesagt. Er brauchte nur sechs Stunden, redete mit seiner Frau, dann hatte er sich entschieden.
Michael Naumann (66) ist ein Wanderer zwischen den Welten. Als Wissenschaftler (1971 bis 1978) lehrte er Politische Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Als Verleger (1985 bis1998) arbeitete er bei Rowohlt in Reinbek und Henry Holt in New York. Die meiste Zeit seines Lebens war er jedoch Journalist: beim Münchner Merkur (1969-1970) sowie bei der Zeit (immer wieder) und dem Spiegel (1981-1983). Zuletzt war er Chefredakteur und Herausgeber der Zeit (2000-2007). Davor hatte er für 2 Jahre in die Politik gewechselt: als Kulturstaatsminister unter Kanzler Gerhard Schröder. Im März 2007 wurde er zum Spitzenkandidaten der Hamburger SPD gewählt. J. K.
Es war nicht das erste Mal in seinem Leben, dass er gefragt worden war, ob er eine neue Aufgabe übernehmen wolle. Er überlegte nie lange, sechs Stunden, mal ein paar mehr, mal weniger, schon war er Zeit-Redakteur in Hamburg, Assistent an der Ruhr-Universität Bochum, Forschungsstipendiat in Oxford, Zeit-Korrespondent in Washington, Auslandschef beim Spiegel, Leiter der Rowohlt Verlage in Reinbek, Geschäftsführer des Verlags Henry Holt in New York, Schröders Kulturminister in Berlin sowie Chefredakteur, Herausgeber der Zeit. Warum sagt dieser Mann immer Ja? Weil er Selbstvertrauen hat? Weil er Herausforderungen liebt? Weil er bewiesen hat, dass er vieles kann?
Diesmal rief ihn am Morgen des 7. März Kurt Beck zurück. Ob er genau wisse, worauf er sich einlasse, wollte der SPD-Vorsitzende wissen. "Willst du die Aufgabe wirklich übernehmen?" Naumann blieb bei der Antwort vom Vorabend. Ja, er wollte. Er wollte Spitzenkandidat für die Bürgerschaftswahl werden. Retter der Hamburger SPD.
Hamburg und die Sozialdemokraten - das ist eine ganz besondere Beziehung. Die Hansestadt war immer rot, so rot wie ihr Wappen. Nach dem Krieg regierte hier die SPD mit nur einer kurzen Unterbrechung über 50 Jahre lang. Die sozialdemokratischen Bürgermeister waren weltläufige, gebildete, liberale Leute: Brauer, Nevermann, Klose, von Dohnanyi, Voscherau. Vornehme Genossen. Eine Mischung aus Buddenbrook und Bebel. Sie versöhnten die stolzen Hamburger Kaufleute mit der Malocher-SPD.
Damit war es 2001 vorbei. Die Sozialdemokraten verloren den Kontakt zu den kleinen Leuten und die Wahl. Seitdem regiert der CDU-Mann Ole von Beust. Und die SPD fiel in eine tiefe Depression. Im Februar 2007 scheiterte eine Mitgliederbefragung über die Spitzenkandidatur für die nächste Wahl, Stimmzettel wurden gestohlen, der Vorstand trat zurück. Die Partei stand am Abgrund. Als sie nicht mehr weiterwusste, fragte sie Naumann.
Er passt zu Hamburg. Er ist weltläufig, gebildet, liberal. Ein linker Demokrat, der sein Leben lang SPD gewählt hat. Aber passt Naumann, der Nichtpolitiker mit dem außergewöhnlichen Lebenslauf, auch in die gewöhnliche Welt der Politik? Oder steckt in seiner Kandidatur das durchsichtige Kalkül einer verzweifelten Partei: Wir holen uns einen Intellektuellen von außen, auf den können wir alle Hoffnungen setzen? "Ich finde, dass Michael Naumann idealtypisch zu uns passt", sagt Olaf Scholz. "So stellen sich die Hamburger einen sozialdemokratischen Bürgermeister vor." Scholz wurde in der Hamburger SPD groß, heute ist er Arbeitsminister der großen Koalition in Berlin. Er hatte die Idee, bei Naumann anzurufen.
Natürlich schmeichelte Naumann der Anruf. Er saß in seinem Hamburger Redaktionsbüro und sah sich plötzlich in einer Reihe mit den großen Bürgermeistern der Stadt. Er war jetzt 65. Was stand ihm als Zeit-Herausgeber noch groß bevor, außer neben Helmut Schmidt alt zu werden? Das Angebot roch nach einem neuen Abenteuer, vielleicht nach seinem letzten.
Seit 1971 lebt Naumann in Hamburg. Er liebt die Stadt. Hier wuchsen seine beiden Kinder auf. Hier ist seine zweite Frau zu Hause, Marie Warburg, Tochter einer alteingesessenen Hamburger Bankiersfamilie. Von hier aus brach er in die Welt auf und kehrte stets zurück. "Hamburg blieb mein Heimathafen."
Seine Stadt aber hat sich mit der Zeit verändert. "Das Hamburg, in dem ich heute wohne, ist nicht das Hamburg, das ich damals verlassen habe", sagt er. "Der Unterschied zwischen Arm und Reich ist größer geworden. Hier gibt es Kinder, deren Eltern sich keine Schultüten kaufen können. Hier stehen Hunderte vor Suppenküchen Schlange, wie in der Weimarer Republik. Hier regiert ein Bürgermeister, der über 10.000 Langzeitarbeitslose mit 1-Euro-Jobs abspeist." Naumann will das ändern. Hamburgs Wachstum soll allen Menschen zugutekommen. Er will die Studiengebühren abschaffen, Armut bekämpfen, Bildungschancen verbessern.
Geht das so einfach? Sich als Zeit-Herausgeber beurlauben zu lassen, auf die Straße zu treten, die Ärmel hochzukrempeln und eine Stadt verändern zu wollen? Ist das ein Job wie jeder andere, den er bisher übernahm?
Naumann ist seit zehn Monaten in einer ihm fremden Welt unterwegs, Tag für Tag. Über 800 Termine, mehr als 100 Großveranstaltungen. Er hat Ausdauer. In der Schule war er Meilenläufer. Naumann besucht die Ghettos seiner Stadt, spricht mit Hartz-IV-Empfängern und vernachlässigten Kindern, begleitet Krankenschwestern in ihrer Nachtschicht, hört den Arbeitern im Hafen zu, tingelt über Wochenmärkte. Zehn Monate Fußmarsch durch Hamburg. Er lernt seine Stadt neu kennen. Und die Bürger dieser Stadt lernen ihn kennen. "Das ist amerikanischer Wahlkampf", sagt er. "Ich bin einfach vor Ort. Shake hands, be here, grip and grin." Naumann ist einer von ihnen und gleichzeitig ein Fremder. Sein Englisch hat etwas Selbstverständliches.
An einem kalten Vormittag Anfang Februar besucht er das Bürgerhaus in Jenfeld, einem Problemviertel im Osten Hamburgs. Sozialer Wohnungsbau, viele Migranten, hohe Arbeitslosenquote. Die Leiterin, die Kitachefin, der Sozialarbeiter erzählen vom Alltag. Er besteht aus überforderten Eltern, arbeitslosen Müttern, die keinen Kitaplatz bekommen, Streichung von Geldern für Deutschkurse. Naumann hört zu, fragt nach. Er ist auf Entdeckungsreise, nicht auf Kurzbesuch bei der Wählerschaft. "Wir müssen uns noch mal treffen", sagt er zum Abschied. "Ich muss mehr wissen."
Als er das Bürgerhaus verlässt, zerzaust der Wind sein graues Haar. Naumann hat in all seinen Jobs hart gearbeitet. Jetzt tut er alles, um ein guter Kommunalpolitiker zu werden. Er büffelt seine Stadt. "All politics is local", sagt er. Der Weltmann zitiert eine amerikanische Präsidentenweisheit. Er steht in Jeans, weißem Hemd, Pullover und braunem Mantel mitten in seinem Hamburg und erzählt, was er gelernt hat. "20 Prozent der Kinder hier, also rund 50.000, leben von Sozialhilfe. 2.000 Kinder verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss. Das macht in zehn Jahren eine Kleinstadt der Hoffnungslosigkeit." Er fügt hinzu: "Das ist verrückt, oder?"
Verrückt ist aber auch, dass den Journalisten Naumann diese soziale Tristesse nicht um den Schlaf gebracht hat. Dabei war im August 2006 ausgerechnet in seiner Zeit ein vierseitiges Dossier über Armut in Hamburg erschienen, Schicksale und Statistiken, die er jetzt zum Skandal erklärt, inklusive. "Ich gebe zu, von den sozialen Problemen um die Ecke bislang nur gehört oder gelesen zu haben", sagt der Politiker Naumann heute. "Wirklich Ahnung hatte ich nicht. Ich schäme mich nicht, das zuzugeben."
So schonungslos offen sprechen Politiker selten. Naumanns Gegner machen ihm die Aufrichtigkeit zum Vorwurf. Weil sie sich in ihrer eigenen Ignoranz ertappt fühlen? Ein Schöngeist auf Expedition in den Alltag, lästern sie. "Der kluge Onkel aus Amerika sagt den Hamburgern, was sie nicht sehen", schreiben Journalisten. "Herr Professor Naumann" nennt Ole von Beust seinen Herausforderer herablassend. Alle glauben sie, er mache das schöne, reiche Hamburg schlecht. Naumann sagt: "Ich mache die Stadt auf sich selber aufmerksam." Das ist klug. Und zugleich anmaßend. Als könne nur einer Hamburg retten.
Michael Naumann musste sich nur einziges Mal um einen Beruf bewerben: ganz am Anfang, 1969 als Volontär beim Münchner Merkur. Ansonsten ist er stets gerufen worden. Anerkennung flog ihm zu, Neugier führte ihn in immer neue Welten, spannende Aufgaben warteten auf ihn. Er hat sie mit ganzer Kraft erfüllt. Aber wenn er die Zeit für gekommen hielt, hörte er auf. Als Kulturminister in Schröders Kabinett stahl er sich nach zwei Jahren davon. "Ich gehe als freier Mann, so wie ich gekommen bin", sagte er damals. Und als er im Januar 2006 gefragt wurde, ob er sich vorstellen könne, in die Politik zurückzukehren, antwortete er: "Nein." Auch Herausgeber der Zeit wollte er nicht ewig bleiben. "Ich habe noch andere Vorstellungen vom Leben, ich würde gern meine Loeb Classical Library lesen - das sind fast 500 Bände. Und ich möchte segeln."
Mit der edlen Bibliothek und dem Segeln, seinem Hobby, ist es erst mal vorbei. Sein Boot liegt im nordamerikanischen Maine vor Anker, und dort wird es auch bleiben. Denn jetzt, fast am Ende seiner Karriere, bewirbt sich Naumann erneut. Zum zweiten Mal in seinem Leben. Er will zum Bürgermeister gewählt werden.
Die neue Aufgabe ist anders als die Aufgaben bisher. Sie fühlt sich an, als könne er seiner Stadt etwas zurückgeben. Der Sohn aus gutbürgerlichem Hause kam als Elfjähriger 1953 zum ersten Mal nach Hamburg, ins Flüchtlingslager in Wentorf. Seine Mutter war eine Kriegerwitwe. Sie war allein mit vier Kindern aus Köthen in Sachsen-Anhalt geflohen. Zog mit ihnen weiter in das völlig zerstörte Köln. In einer Ruine am Rheinufer richteten sie sich mit Orangenkisten als Möbeln ein. Naumann weiß, wie es ist, plötzlich arm zu sein. Er stieg auf, studierte, machte Karriere. Als Chefredakteur der Zeit schrieb er: Die Besten der Gesellschaft müssen in der Politik Verantwortung übernehmen.
Man kann ihm so viel patriotisches Pflichtgefühl abkaufen oder nicht. Naumann weiß, dass er gegen Zweifel vor der Wahl nichts ausrichten kann. Und nach der Wahl? Möglich, dass er nicht gewinnt. Möglich, dass ihm dann wieder sein Boot und seine Bücher in den Sinn kommen. Aber er sagt, er wolle auf jeden Fall sein Abgeordnetenmandat annehmen. Wenn der Politiker Michael Naumann sich an das hält, was er verspricht, dann kann er nicht verlieren.
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