Polonium-Spuren in Flugzeugen gefunden

Um den Tod des russischen Exagenten Litvinenko aufzuklären, will Scotland Yard tausende Fluggäste ausfindig machen. Während in Großbritannien die Gerüchteküche kocht, gibt es in Irland ein mögliches weiteres Giftopfer

DUBLIN taz ■ In zwei Flugzeugen von British Airways, die auf der Strecke von London nach Moskau eingesetzt wurden, sind radioaktive Spuren gefunden worden. Eine dritte Maschine wird noch in Moskau untersucht. Ein Sprecher der Fluglinie sagte, er gehe davon aus, dass es sich bei der Substanz um Polonium-210 handele, das Isotop, mit dem der russische Exagent und Regimegegner Alexander Litvinenko vergiftet wurde. Der 43-Jährige starb vor acht Tagen nach dreiwöchigem Todeskampf in London. Er soll heute obduziert werden.

Die radioaktiven Spuren seien sehr schwach und das Risiko für die öffentliche Gesundheit äußerst gering, erklärte British Airways. Dennoch hat die Fluggesellschaft zunächst 800 Passagiere kontaktiert, die auf vier Flüge zwischen London und Moskau in der Zeit um den 1. November gebucht waren – dem Tag, an dem Litvinenko vermutlich vergiftet wurde. Die Polizei ist besonders an den Flügen von Moskau nach Heathrow am 25. und 31. Oktober sowie in umgekehrter Richtung am 28. Oktober und 3. November interessiert. Auf mindestens einem dieser Flüge war der ehemalige KGB-Agent Andrej Lugowoi gereist, der sich – gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Dimitri Kowtun – am 1. November im Londoner Millennium-Hotel mit Litvinenko getroffen hat. In dem Hotel sind Spuren von Polonium-210 gefunden worden. Mit Litvinenkos Tod habe er nichts zu tun, sagte Lugowoi und fügte hinzu: „Ich habe das Gefühl, dass ich von irgendjemandem als Bösewicht hingestellt werden soll.“

Die drei BA-Kurzstreckenmaschinen vom Typ Boeing 767 haben seit dem 25. Oktober auf 221 Flügen rund 33.000 Passagiere und 3.000 Besatzungsmitglieder befördert. British Airways will diese Personen ebenfalls ausfindig machen. Unter anderem geht es dabei um die Flüge BA 916 am 26. Oktober von London Heathrow nach Frankfurt und den Rückflug BA 901 am 27. Oktober sowie die Flüge zwischen London und Düsseldorf am 30. Oktober, 6., 18., 19., 24., 25. und 27. November. Die betroffenen Maschinen haben außerdem Barcelona, Madrid, Larnaka, Wien, Stockholm, Istanbul und Athen angeflogen. Der britische Premierminister Tony Blair sagte gestern, es dürfe „keine diplomatischen oder politischen Barrieren“ geben, die Scotland Yards Ermittlungen behindern. Die Antiterrorismus-Einheit von Scotland Yard, die die Untersuchung leitet, hat jedoch noch immer keine Morduntersuchung eingeleitet, sondern spricht von einem „ungeklärten Todesfall“.

Inzwischen verdächtigt jeder jeden. Litvinenko hatte kurz vor seinem Tod den russischen Präsidenten Wladimir Putin beschuldigt. Der sagt, dass der im Londoner Exil lebende russische Milliardär und Putin-Gegner Boris Beresowski, der mit Litvinenko zusammengearbeitet hatte, verantwortlich sei. In dessen Londoner Hauptbüro sind Anfang der Woche Spuren von Polonium-210 gefunden worden.

Juri Felshtinsky wiederum, ein Freund Litvinenkos, meint, dass der italienische Spionageexperte Mario Scaramella das Gift verabreicht habe. Litvinenko hatte sich am 1. November mit Scaramella in einer Sushi-Bar am Piccadilly Circus getroffen, in der ebenfalls Rückstände von Polonium entdeckt wurden. Felshtinsky, der vor sechs Jahren gemeinsam mit Litvinenko in einem Buch behauptet hatte, dass der russische Geheimdienst FSB hinter der Anschlagserie 1999 in Moskau und anderen russischen Städten steckte, hat zehn Tage vor Litvinenkos Tod mit ihm telefoniert. Dabei soll Litvinenko laut Boulevardblatt Sun erklärt haben, Scaramella stecke mit dem FSB unter einer Decke und habe ihn vergiftet. Der Italiener soll bei dem Treffen in der Sushi-Bar „äußerst nervös“ gewesen sein und habe nichts gegessen.

Die Untersuchung von Scaramella in Italien ergab jedoch keine Spuren von Polonium-210. „Litvinenko war mein Freund“, sagte Scaramella gestern. „Diese Anschuldigungen sind ein weiterer Unfug, der über mich in Umlauf gebracht worden ist.“ Er ist am Dienstag nach England zurückgekehrt – als Zeuge, nicht als Verdächtiger, betonte die Polizei. Der Daily Telegraph spekulierte gestern über ein mögliches weiteres Vergiftungsopfer. Jegor Gaidar, der 1992 kommissarischer russischer Ministerpräsident war, ist vorige Woche auf einer Geschäftsreise in Irland zusammengebrochen, nachdem er in einem Dubliner Hotel gefrühstückt hatte. Seine Tochter Maria, die in der russischen Opposition aktiv ist, sagte, er habe Blut gespuckt und sei für Stunden bewusstlos gewesen. Seine Sekretärin meinte, die Ärzte bezweifeln eine natürliche Ursache, eine Vergiftung werde nicht ausgeschlossen. RALF SOTSCHECK