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Politische Vorentscheidung im "Fall Stolpe"Ein Glücksfallfür die Union

■ Ein angeschlagener Stolpe im Amt ist für die CDU funktionaler als ein Rücktritt des brandenburgischen Ministerpräsidenten

Ein Glücksfall für die Union Ein angeschlagener Stolpe im Amt ist für die CDU funktionaler als ein Rücktritt des brandenburgischen Ministerpräsidenten

VON MATTHIAS GEIS

War der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe ein Einflußagent der Staatssicherheit innerhalb der evangelischen Kirche? Oder doch — wie seine nicht unplausibel klingenden Formulierungen nahelegen — ein begnadeter Kirchenstratege, der selbst noch das Mielke-Ministerium für seine Zwecke zu instrumentalisieren verstand? Spielte er den Beschwichtiger der Opposition im Dienste des Realsozialismus, oder legte er, mit dem behutsam verteidigten Freiraum für die kirchlichen Gruppen, einen entscheidenden Grundstein für die Wende? Oder war der populäre Grenzgänger zwischen Kirche und Staat immer auf beiden Seiten zu Hause, ein klug kalkulierender Entspannungspolitiker, der das Prinzip der neuen Ost-Politik, „Wandel durch Annäherung“, virtuos auf die innerstaatlichen Verhältnisse übertrug — und dabei schon mal die Grenzen der Annäherung aus den Augen verlor? Man beginnt zu ahnen, daß sich am „Fall Stolpe“ doch ein zentraleres Stück DDR- und deutsch-deutsche Geschichte aufhellen ließe als an den Stasi- Verstrickungen der Literatenszene vom Prenzlauer Berg.

Über seine 'Spiegel‘-Veröffentlichung hinaus hat Stolpe bislang die Methoden seiner einstigen Politik, insbesondere die Qualität seiner Stasi-Kontakte, nicht präzisiert. Die Akteneinsicht bei der Gauck-Behörde will er beantragen. Aus den Opferakten sind bislang keine belastenden Indizien gegen Stolpe bekannt geworden, die seine Sicht der Dinge erschüttern würden. Der Mangel an Konkretion in der bisherigen Debatte führt dazu, daß sich sowohl kritische wie wohlwollende Bewertungen der einstigen Rolle Stolpes plausibel begründen lassen.

Gravierend gegen Stolpe allerdings spricht die Dauer seiner MfS-Kontakte. Noch im März 1990, zwei Monate nachdem die Opposition am Runden Tisch die endgültige Abwicklung des Geheimdienstes durchgesetzt hatte, traf sich Stolpe mit den Leuten vom MfS. Das wirft einen bösen Schatten auf die Intensität seiner Kontakte wie deren Rechtfertigung.

Verständlich, daß sich die Öffentlichkeit mit seiner summarischen Selbsteinschätzung, er habe unter extremen Bedingungen „behutsame Gegenkonspiration“ im Interesse der Menschen betrieben, nicht durchweg zufrieden gibt. Das wiederum bringt einen larmoyanten Unterton in Stolpes jüngste Erklärungen. Da habe er nun versucht — kaschiert Stolpe seine unbequeme Lage — „einen Beitrag zur Aufklärung zu leisten“; und jetzt müsse er erfahren, „daß wir noch sehr am Anfang des Versuchs sind, zu einem sachlichen Gespräch zu gelangen“.

Das sachliche Gespräch, so ist den jüngsten Äußerungen des evangelischen Bischofs von Berlin-Brandenburg, Gottfried Forck, zu entnehmen, hätte dieser gerne schon früher geführt. Forck versucht nicht, den Schock zu verbergen, den Stolpes Enthüllungen bei ihm ausgelöst haben. Er unterstellt ihm allen guten Willen, doch — so lassen sich seine Einlassungen auf den Punkt bringen — Stolpe ist mit seinen konspirativen Stasi- Kontakten entschieden zu weit gegangen. Forcks Intervention wiegt um so schwerer, weil sich der Bischof bislang in der Frage der Stasi-Aufarbeitung innerhalb der Kirche eher zurückhaltend geäußert hat.

Doch Forck scheint mit seiner distanziert- solidarischen Reaktion auf Stolpes Bekenntnisse derzeit eher die Ausnahme unter den Kirchenoberen. Symptomatischer für deren forsche Entschlossenheit, die Kirche durch die Vergangenheitsdebatte zu lavieren, sind die Äußerungen von Generalsuperintendent Martin Krusche: Die Zeiten waren hart, unkonventionelle Methoden nicht immer zu vermeiden; hier und da hat man wohl auch über die Stränge geschlagen, sorry — so lassen sich die Rechtfertigungsreden Krusches pointieren. Doch die Kirche ist nicht die Bühne, auf der über die Zukunft Manfred Stolpes entschieden wird. Kaum überraschend, daß die parteipolitischen Wogen, nicht nur wegen Stolpes herausragender landespolitischer Rolle, hochschlagen. Die SPD verteidigt ihren angeschlagenen Hoffnungsträger aus dem deutschen Osten mit Klauen, Zähnen und einer gemeinsamen Ehrenerklärung von Willy Brandt und Helmut Schmidt. Engholm und Klose stehen nicht nach. Auch Lambsdorff bricht eine Lanze für den bedrängten Potsdamer Koalitionspartner. Kein Wunder, daß Manfred Stolpe, der Moderator, vor „Hysterie bei der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit“ warnt.

Die CDU, so will man meinen, wird sich selbstverständlich die schöne Gelegenheit nicht nehmen lassen und Stolpe von seinem Sockel holen. Eine bessere Gelegenheit, um der SPD ihre voyeuristische Häme bei der unionsinternen Blockpartei-Debatte heimzuzahlen, kommt nicht wieder: Stolpe, der eigentliche Böhme der gesamtdeutschen Sozialdemokratie! Mißtrauensvotum oder besser gleich der Rücktritt, so die ersten reflexartigen Reaktionen aus Bayern und Brandenburg. Nur das Kanzleramt reagierte merkwürdig gelassen. Stolpe — auch weiterhin ein honoriger Mann?

Zwei Tage später scheint klar: Wenn nicht neue kompromittierende Erkenntnisse aus den Akten der Gauck-Behörde Stolpes Selbstinterpretation ad absurdum führen, kann er bleiben, was er ist. Ministerpräsident in Brandenburg; selbst der Einzug ins Bundespräsidialamt scheint keineswegs verbaut— meint plötzlich der Scharfmacher von vorgestern, Brandenburgs CDU-Fraktionschef Peter-Michael Diestel.

Es hat sich was bewegt. Nur Stolpe selbst merkt es etwas später und klagt in 'Bild‘ über die politische Kampagne gegen seine Person. Wieder sind es Diestel und die CSU, die der Öffentlichkeit interpretierend unter die Arme greifen: Ein „fairer Umgang“ mit Stolpe könne zum „Präzedenzfall“ für eine „differenzierte Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit“ geraten. Und weiter, in schonungsloser Offenheit: Wenn Stolpe also weitermachen könne, stehe ja wohl der Rehabilitierung des über seine Stasi-Tätigkeit gestürzten Lothar de Maizière nichts mehr im Wege. Und die CSU läßt verlauten, damit sei die Blockflöten-Debatte endgültig vom Tisch.

Ein klares und schamloses Kalkül der Union: Ein beschädigter Stolpe im Amt ist für die CDU funktionaler als sein spektakulärer Rücktritt. Auf ihn läßt sich fortan dezent verweisen, wenn irgendein christlicher Kader über seine Blockpartei-Vergangenheit ins Zwielicht gerät. Die Funktionselite der CDU im Osten hätte damit ein für allemal ihren Persilschein.

Sicherer als mit Stolpe, über dessen Karriere in parteiübergreifendem Agreement positiv entschieden wird, ließe sich die SPD in der Frage der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nicht paralysieren. Dem kann sich die SPD nicht mit Ehrenerklärungen, sondern nur mit dem Versuch einer rückhaltlosen Debatte über die Rolle Stolpes entziehen — mit offenem Ausgang.

Parteipolitisch kalkulierter Umgang oder das Interesse an einer vorurteilslosen Wahrheitsfindung lautet jetzt die Entscheidungsalternative, die über den „Fall Stolpe“ hinaus die Qualität der DDR-Vergangenheitsdebatte prägen wird.

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