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Politische Kunst in GrazDie Bewegung muss cool sein

Das Grazer Kunstfestival Steirischer Herbst will die Komplexität der Welt aufarbeiten. Dafür gibt es ein 24-Stunden-Marathon-Camp und populistische Politkunst.

Noch züchtig bekleidet: Die Aktionskünstlerinnen von Femen. Bild: wolfgang silveri

Aktivistische Kunst überfordert oft. Während eines trockenen Vortrags über die feministische Agitprop-Gruppe Femen streift Inna Schewtschenko ihr T-Shirt ab, steigt in Highheels über die Stühle in den Zuschauerraum, setzt sich rittlings auf den Schoss eines Zuhörers und drückt dessen Gesicht an ihre Brüste. „Jetzt kannst du meine Message nicht ignorieren, oder?“, fragt sie in das Mikrofon.

„Sextremismus“ nennen die ukrainischen Aktivistinnen solche verstörenden Grenzüberschreitungen. Solange die nackten Brüste auf Werbeplakaten oder in den Händen der Männer blieben, sei alles in Ordnung, erläutert Femen-Aktivistin Aleksandra Schewtschenko. „Aber sobald eine Nackte in die Öffentlichkeit eindringt, ist das schockierend.“

Unter dem Motto „Truth is concrete“ begann am Freitag das Kunstfestival Steirischer Herbst 2012 mit einem sieben Tage andauernden 24-Stunden-Marathon und der alljährlichen Herbstausstellung. Ein Rund-um-die-Uhr-Pogramm, das bedeutet vor allem Überforderung.

Explizit verknüpfen die OrganisatorInnen dieses Gefühl mit den rasanten Veränderungen der Welt vom Arabischen Frühling bis zu Occupy, vom Aufstieg der neuen Rechten bis zur Finanzkrise. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, was künstlerische Strategien in der Politik und politische Strategien in der Kunst können.

Platte Tipps funktionieren

Rund 200 KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und AktivistInnen aus der ganzen Welt debattieren und performen. Sie schöpfen dabei aus ihren eigenen Erfahrungen mit autoritären Regimes, Verfolgung, Patriarchat und Verwertungszwang. Viele der Gäste sind aus Angst vor Repressionen nur noch im Ausland aktiv – wie Marina Naprushkina aus Weißrussland, eine Künstlerin, die von Deutschland aus ihr Büro für Anti-Propaganda betreibt.

Auch einige Stars des politischen Aktivismus sind nach Graz gekommen. Der Serbe Srdja Popovic etwa. Als Mitbegründer der serbischen Oppositionsbewegung Otpor! bildet er mit seinem Zentrum für angewandte gewaltlose Aktion und Strategien (Canvas) heute weltweit AktivistInnen aus. Der schlaksige Enddreißiger ist ein Profi. „Die Bewegung muss cool sein, lustig und gut aussehen“, sagt er, während er auf der Bühne auf und ab schlendert. Jeder müsse sich an einem Aufstand beteiligen können.

So platt Popovics Tipps auch sein mögen, seine Schulungen, die ganz konkret auf die Fehler der serbischen Opposition reagieren, bringen AktivistInnen von Simbabwe bis Libanon auf die Straße. Mit diesem simplen Abc des Widerstands hatte Canvas die Orange Revolution in der Ukraine vor acht Jahren mitgeprägt.

Der bekannteste Gast des Festivals ist Antanas Mockus. Der Mathematiker und Philosoph infiltrierte erfolgreich die kolumbianische Politik mit künstlerischen Strategien. In seiner Amtszeit als Bürgermeister von Bogotá, das von Bandenkriminalität und Drogenkartellen zerfressen ist, ersetzte er Polizisten durch Pantomimen, trat mit einer kugelsicheren Weste auf, in die ein herzförmiges Loch gestanzt war, und ließ Waffen gegen Spielzeug tauschen. Mockus’ Zauberwort ist „Rekontextualisierung“. In Graz stellt er eine Wasserkaraffe vom Tisch an den Bühnenrand. „Nicht produktiv, aber irritierend“, sagt er. An die starke Hand des Staates glaubt er nicht: „Ich ziehe symbolische Gewalt vor.“ Die Statistiken gaben Mockus recht: die Zahl der Morde und Verkehrstoten in Bogotá sank drastisch.

Überhaupt wird viel erklärt

Für das Nonstop-Camp hat das Raumlabor Berlin das Grazer Thalia über Gerüstbauten mit dem Palais auf der gegenüberliegenden Straßenseite verbunden. Drinnen ist aus alten Möbelteilen eine charmante Wohnlandschaft entstanden. Schon am zweiten Tag kommt Camp-Feeling auf. Zwischen Anzugträgern und Hipstern tummeln sich die Übernächtigten mit wirrem Haar und Laptop. Ein Mikrokosmos mit eigenen Zeitabläufen ist entstanden.

Im Zentrum des Geländes steht ein Turm aus ausgedienten Fenstern. Ganz oben: der Garten des biologischen Ungehorsams. Katherine Ball zieht dort „widerständige“ Pflanzen, Schopftintlinge etwa, Pilze, die angeblich durch Asphalt brechen. Die Künstlerin erläutert, wie herbizidresistentes Unkraut die Testfelder der Saatgutriesen lahmlegen kann. Überhaupt wird viel erklärt. Die subjektive Karte aktivistischer Strategien, die im Dialog entworfen wird, hemmt aber den Disput. Dabei gibt es genügend Streitpunkte, sei es die brachialsexistische Bildsprache von Femen, sei es der Populismus von Srdja Popovic.

Mit dieser Eintracht rechnet der Aktionskünstler Reverend Billy in einem Gospel-Gottesdienst seiner Church of Earthalujah ab. Im Gestus eines Erweckungspredigers gibt er grimassierend Parolen vor, die das Publikum wiedergibt. Das wirkt fast wie die Parodie der Occupy-Versammlungen im New Yorker Zuccotti-Park, auf denen nicht wenige AktivistInnen ihr Glück im gemeinsamen Nachsprechen der politischen Botschaft fanden. Als Reverend Billy das Publikum fragt, ob der Mensch die Apokalypse überleben soll, wird der Chor kakofon: „Ja!“, „Nein!“, „Nicht alle!“, schallt es zurück. „Earthalujah!“, jubiliert Billy.

Steirischer Herbst in Graz. Bis 14. Oktober, 24/7-Marathon-Camp bis 28. September

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