Politikanalyse von Luisa Neubauer : Dreams Are Their Reality
Nach 16 klimapolitisch verlorenen Merkel-Jahren und einem wirklichkeitsfernen Wahlkampf wird keine neue Bundesregierung stehen können, die angemessene Antworten auf die Klimakrise vorstellt.
Von LUISA NEUBAUER
Der Wahlkampf ist fast vorbei und das Geheimnis nicht gelüftet. Man hat es geschafft, derart viel Wirklichkeit aus dem Wahlkampf herauszuhalten, dass praktisch nicht aufgefallen ist, wie brenzlig die Lage ist. Man stelle sich vor: Wir erleben eine Jahrhundertwahl, die politische Führung einer der Hauptverursacher der Klimakrise wird neu gewählt und es gibt keine ernsthafte Debatte über die Tiefe der Eingriffe, die notwendig sind, um uns aus dieser Krise zu befreien. Keines der politischen Lager, ob mit Öko-DNA oder ohne, spricht aus, wie gravierend die Veränderungen sein werden – die Veränderungen, die uns bevorstehen, wenn man sich entscheidet zu handeln, und jene, die zu erwarten sind, wenn man es bleiben lässt.
Man muss staunen.
»16 verpasste Merkeljahre und nur 14 Jahre bis zur Klimaneutralität – wir werden zur Aufholjagd antreten müssen.« Luisa Neubauer
Es ist eine dramatische wie beeindruckende Leistung, schließlich bricht die Unzumutbarkeit dieser 1,2 Grad wärmeren Welt jeden Tag aufs Neue an die Oberfläche. Es ist nicht normal, dass in den USA Kühlhallen aufgestellt werden müssen, um Menschen vor der Hitze der immer unbewohnbareren Regionen zu schützen, dass Kanada ganze Ortschaften an die Flammen verliert. Es ist auch nicht normal, dass der Himmel über China den Niederschlag eines Jahres in wenigen Stunden fallen lässt, dass der finnische Wald brennt wie nie und dann auf einmal der Ozean, dass das Abendessen mancher Türkei-Urlauber von Flammenmeer beleuchtet wird, dass der östliche Amazonas-Regenwald seine Funktion als grüne Lunge verliert.
Katastrophen-Ignoranz der Regierung
Zu bestaunen sind nicht nur die Katastrophen allein, sondern auch die überraschte Routine, mit der darauf reagiert wird. Bestürzung wird mit Normalisierung gemischt, man steht schockiert vor komplett erwartbaren humanitären Notständen, um nur wenige Tage später zur Tagesordnung zurückzukehren. Die deutsche Regierung hat den Sport der Katastrophen-Ignoranz perfektioniert. »Weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik«, sagt der CDU-Kanzlerkandidat und nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet zuverlässig an so einem Tag, an dem sein Bundesland punktuell nicht wiederzuerkennen ist.
Mindestens so beeindruckend wie die Katastrophen und deren paradoxe politische Verarbeitung ist auch die Gelassenheit, mit der die Öffentlichkeit auf diese politischen Totalausfälle reagiert. Während man von jedem Autofahrenden erwartet, sich gegen die Gefahr eines potenziellen Autounfalls zu versichern und gleichzeitig möglichst vorsichtig zu fahren, demonstriert die Regierung, wie es aussieht, wenn man sich dem Konzept der Risikominimierung verweigert. Man lässt beispielsweise zu, dass komplette Hochwasserrisiko-Regionen in Deutschland ohne flächendeckende Warnsysteme auf die nächsten Fluten hinleben. Die Regierung glaubt offenkundig so wenig an die reale Gefahr sorgfältig prognostizierter Starkregenereignisse, dass sie weder in ausreichend Sirenen noch Krisenprävention wie etwa Hochwasserschutz investiert. Und dennoch tritt niemand zurück, als diese Fehler herauskommen, man zuckt kaum mehr zusammen.
»Leute, wir haben uns komplett verrannt, und nun wissen wir auch nicht genau weiter«, wäre die ehrliche Botschaft des Sommers gewesen. Was diese Monate stattdessen passiert, ist politische Akrobatik auf einer selbstgebauten Projektionsfläche. Denn selbstverständlich bekennt man sich heute als demokratische Partei zum 1,5 Grad-Ziel. Nur macht kein Programm ein tragfähiges Angebot, wie man mit einer guten Wahrscheinlichkeit unseren gerechten Beitrag zu dessen Einhaltung leisten könnte. Wir sprechen von einem deutschen CO2-Restbudget von rund vier Gigatonnen, nach aktuellen Zahlen.
Keine Partei stellt sich dem Ausmaß der Krise
Offensichtlich unterscheidet sich der Grad der Wirklichkeitsverweigerung in den verschiedenen Parteien. Letztendlich läuft es aber trotzdem auf ein überparteiliches Interesse heraus, nur so viel Klimakatastrophe im Wahlkampf zuzulassen, wie man meint, politische Antworten darauf zu haben. Da kein Parteiprogramm die reale Tiefe und Schwere des ökologischen Kollapses aufgreift, da es keinen Kanzlerkandidat:in gibt, der bereit ist, darüber zu sprechen, wie viel sich ändern wird, wächst auf allen Seiten ein Interesse, ein Teil der Wirklichkeit zu verschleiern.
Im Wahlprogramm der Union findet man die Wörter »Hitze«, »Wasserknappheit« und »Ernteausfall« kein einziges Mal, dafür wird auf 39 Seiten über Innovation gesprochen. Man reduziert die Klimakrise auf einen Bruchteil ihrer Gefährlichkeit, nuschelt die potenziellen Zumutungen im Falle echter Klimapolitik vom Tisch, die wahre Wucht der kranken Wälder und verseuchten Böden lässt man vorsichtshalber ganz weg. Erst dann kann die CDU etwa feststellen, dass die Klimakrise überhaupt kein so großes Problem wäre, wenn das Land etwas moderner wäre. Die FDP sieht die Klimakrise überraschenderweise vor allem als Konsequenz mangelnder Innovationskraft und verklemmter Märkte. Die Grünen können endlich ein ganzes Programm lang sagen »wir haben es euch doch gesagt«, was auch stimmt, aber auch ihr Klimaschutz darf nicht wirklich spürbar sein, eine Zumutung in Form von 16 Cent Benzinaufpreis schon gar nicht, die Verarbeitung des Veggie-Day-Traumas hält an. Die SPD macht sich schockierend ehrlich, sie tut immerhin nicht mal so, als hätte sie die Lage im Griff – was womöglich daran liegen könnte, dass man ihr seit Jahren nicht mehr abnimmt, dass sie jenseits der Social-Media-Kanäle des Willy-Brandt-Hauses irgendwas im Griff hat.
Dämonisierung von Klimaschutz
Und es geht weiter, man hat diesen Sommer nicht nur maximalerfolgreiche Wirklichkeitsreduzierung praktiziert. Gemeinsam hat man auch das größte Geheimnis von allen überdeckt: Dass schlicht niemand, also wirklich niemand, genau wissen kann, wie das genau funktionieren soll: eine Demokratie, die so schnell handelt, wie man handeln müsste. Eine Industrienation, die nicht nur ohne Emissionen, sondern ohne irgendeinen Anspruch auf ökologischen Ressourcenverschleiß auskommt.
Immerhin, die ersten, notwendigen Schritte Richtung 1,5-Grad-Politik sind ja längst bekannt: keine neuen fossilen Projekte, kein Erdgas als »Übergangslösung«, keine neuen Autobahnen. Dazu das Ende der vertikalen Expansion, also von Flächenverbrauch, Massentierhaltung, Monokultivierung. Und dann natürlich achtsamer und weniger, also nicht nur mehr Elektro, sondern vor allem weniger Auto, weniger Fliegen, weniger Fleisch. Das Ganze ehrlich, ohne Energiewende im Extraterritorialen, ohne CO2-Schönrechnen im Austausch von Baumülantagen in Peru, ohne Aufgeben, sobald jemand »Verbotskultur« haucht. All das fordert und überfordert. Das macht man nicht aus Großzügigkeit oder guter Laune heraus. Nein, man macht das, wenn es wirklich nicht anders geht. Wenn man in einer Krise ist.
An dieser Stelle rächt sich, dass die lautesten politischen Stimmen des Landes dieser Republik die letzten drei Jahrzehnte weißgemacht haben, dass die große Gefahr vom Klimaschutz ausgeht, nicht von der Klimakrise. Das musste auch so gemacht werden, denn ein gewichtiger Teil der politischen Praxis in der Vergangenheit hatte etwas mit mehr Emissionen zu tun. Die Klimakrise wurde folglich normalisiert, inhaliert, Emissionen wurden zum logischen Preis für alles Tolle und Freiheitliche und Fortschrittliche in der Welt. Echter Klimaschutz wurde dämonisiert, zum Problem von Grünen und Greenpeace degradiert und solange diskursiv verprügelt, dass es bis vor wenigen Jahren nicht einmal mehr eine Debatte über Maßnahmen gab, die mit einer 2,5-Grad-Politik vereinbar wären. Praktisch, wenn man Politik für und mit Kohle von RWE, Gas von Putin und Autos aus dem Ländle machen möchte. Blöd, wenn man die Bevölkerung dann auf einmal doch für radikalen Klimaschutz gewinnen will.
Die deutsche Politik kennt keine Antworten auf diese Zerstörung
Über dieses große, politisch-antizipierte Missverständnis der letzten 30 Jahre muss man mit den Menschen sprechen. Man müsste sie vorwarnen, dass es so nicht weitergehen wird, nicht weitergehen kann. Als diesen Sommer kurzfristig halb NRW anstieg, schien es fast so, als würde die Wirklichkeit sich doch noch in den Wahlkampf reindrängeln. Und wie könnte es auch anders sein, war Frau Merkel diejenige, die für einen kleinen Moment die Wirklichkeit ans Licht holte: »Die deutsche Sprache kennt kaum Worte für diese Zerstörung«, sagte sie kurz nach der Flutkatastrophe mit Blick auf die Trümmer. Und fast hallte damit die große Wahrheit des Tages mit: »Die deutsche Politik kennt keine Antworten auf diese Zerstörung.«
Die Wahl steht unmittelbar bevor, und die Wucht der Wirklichkeit konnte in weiten Teilen im Verborgenen gehalten werden. Am Ende dieser Wahl wird damit keine Bundesregierung stehen können, die angemessene Antworten auf die Krise vorstellt – es sei denn, die Koalitionspartner entscheiden sich nach der Wahl dazu, radikaleren und schnelleren Klimaschutz umzusetzen, als in jedem der Wahlprogramme vorgesehen ist. Was man nach dieser Wahl exekutieren könnte, wäre eine Arbeitsgrundlage. Eine Koalition, die im Gegensatz zur derzeitigen nicht in Fundamentalopposition zur 1,5-Grad-Politik agiert. Aber es wird hart werden, in jedem Fall. 40 Jahre versäumter Klimaschutz, 16 verpasste Merkel-Jahre und nicht mehr als 14 Jahre bis zur Klimaneutralität in Deutschland – wir werden zur Aufholjagd antreten müssen. Wir werden für jeden Funken Wirklichkeit in den politischen Debatten kämpfen müssen. Immerhin: Es wird sich lohnen.
LUISA NEUBAUER ist Klimapolitikaktivistin. Gerade erschienen (mit Bernd Ulrich): Noch haben wir die Wahl. Tropen 2021 – 237 Seiten, 18 Euro
Dieser Beitrag ist in taz FUTURZWEI N°18 erschienen.