Point 'n click: Der Hauptgewinn ist hier Erleuchtung
■ „Haight/Ashbury“ auf CD-ROM
„If you are going to San Fancisco / Be sure to wear some flowers in your hair“, empfahl Scott McKenzie 1967 in einer berüchtigten Hippie-Schnulze. Doch die Zeiten, „they are a-changin'“: Wer heute nach San Francisco geht, sollte statt Blumen in den Haaren besser einen Laptop unterm Arm und ein Modem in der Tasche tragen. Denn in San Francisco hat sich in den letzten Jahren eine Subkultur gebildet, die Computern, Virtual Reality und dem Internet so inbrünstig huldigt wie die amerikanischen Blumenkinder Ende der 60er dem Kamasutra, LSD und Hermann Hesse.
Bei genauerer Betrachtung entdeckt man sogar gewisse Kontinuitäten zwischen der Flower-Power-Szene von einst und der Computergeneration von heute. Es ist kein Zufall, daß ein vergessen geglaubter Drogenapostel wie Timothy Leary in den letzten Jahren als Computer-Wanderprediger wieder auftauchte.
Auch andere Protagonisten der amerikanischen Cyber-Kultur sind Veteranen aus den sechziger Jahren: Steward Brand, der Gründer der legendären Computermailbox „The Well“, gehörte in den Swinging Sixties zu Ken Kenseys anarchistischen Merry Pranksters. Und der Internet-Philosoph John Perry Barlow (siehe taz vom 19.6. 1995) schrieb früher Texte für die Grateful Dead. Als deren Gitarrist und Kopf Jerry Garcia, auch so eine Ami-Sixties-Ikone, vor einigen Wochen starb, verwandelte sich das Internet vorübergehend in eine Klagemauer.
Selbst beim heutigen Computer-Establishment ist eine gewisse Sixties-Nostalgie zu spüren: Auf den persönlichen Wunsch von Bill Gates wurde für die gigantische Windows-95- Einführungskampagne ein Song der Rolling Stones angekauft. Sein Geschäftspartner Paul Allen will der Stadt Seattle ein Jimi-Hendrix-Museum stiften. Denn eins haben Psychedelia der 60er Jahre und die heutige Computerkultur gemein: Beiden geht es um Selbstentäußerung und das Überschreiten von Grenzen — damals der Grenzen des eigenen Bewußtseins, heute der elektronischen frontier des Cyberspace, deren Überwindung zum Aufgehen in einer virtuellen und universellen Gemeinschaft der „Digiteratik“ führen soll. Und auch die hier zu besprechende CD-ROM ist ein Tribut der digitalisierten neunziger Jahre an die analogen Sixties, als Musik noch nicht vom Rechner, sondern mit „richtigen“ Instrumenten gemacht wurde und Computer allenfalls von den „Pigs“ in Regierung, FBI und Pentagon benutzt wurden.
Schon die Verpackung von „Haight/Ashbury“ sieht aus wie ein Grateful-Dead-Cover. Darin stecken zwei CD-ROMs, die so eine Art Familienalbum der Hippie-Szene von San Francisco sind, das außer Fotos eben auch Videoclips, Songs und Zeitungsausschnitte enthält und in dem man stundenlang herumblättern bzw. -klicken kann.
Der Produzent Tony Bove hat für diese CD-ROM mit recht unhippiehafter Akribie Tausende von Dokumenten zusammengetragen. Man findet einen kurzen Clip von Tim Learys legendärer „Turn on! Tune in! Drop Out!“-Ansprache und einen Ausschnitt aus einer Lesung von Allen Ginsberg. Lang vergessene Hippie-Sekten wie die Diggers, die im Haight-Viertel in San Francisco ohne Geld zu leben versuchten, feiern auf dem Monitor Wiederauferstehung, und nur ein paar Mausklicks weiter sind Live-Mitschnitte von Janis Joplin zu hören. Außerdem gibt es Interviews mit Paul McCartney und Abbie Hoffman. Wir sehen Neal Cassady im Bus der Merry Pranksters, und die blutjungen Grateful Dead erklären konsternierten Reportern ihr Flower-Power-Weltbild. Besonders interessant ist ein teilweiser Faksimile-Reprint der Hippie- Zeitschrift The Oracle, deren Herausgeber Allen Cohn uns durch diese CD-ROM führt. Als Zugabe gibt es ein Computerspiel, bei dem zur Abwechslung mal nicht Punkte fürs Killen vergeben werden, sondern dafür, daß man gerecht die Trips teilt. Der Hauptgewinn: Erleuchtung.
Die Präsentation erinnert leider manchmal etwas an eine Dia-Show, und die gesamte Darstellung wirkt reichlich mythologisierend. Aber ein Geschichtsbuch hat hier natürlich auch niemand erwartet. Im Gegenteil: Jedes Detail atmet Sixties-Zeitgeist. Der Start-Bildschirm rät „be cool, while loading“, der Cursor ist ein kleines Yin-Yang-Symbol, und bei jedem Maus-Klick hört man psychedelische Klänge – eine wirklich multimediale Präsentation. Und mit ein paar geilen Waberbildern manchmal sogar Psychedelia für den Computer. Tilman Baumgärtel
„Haight/Ashbury in the Sixties“. Compton's New Media; 2 CD-ROMs für PC und Mac, 99 Mark
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