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Archiv-Artikel

„Pauli quer ab“ – ein szenischer Rundgang zu vergessenen Orten mit unerhörten Geschichten Poetisches Gedächtnis

Dass St. Pauli jenseits von Strich und Kneipen auch ganz andere Ecken zu bieten hat, dürfte sich herumgesprochen haben. Manche sind ausgesprochen rau, andere eher verträumt und, wenn man ein bisschen Gespür dafür beweist, unvermutet poetisch aufgeladen – und damit sind nicht Hans Albers und spätindustrielle Hafenromantik gemeint.

Was daraus entstehen kann, lässt das Mobile Elysium Theater mit Pauli quer ab sehen und hören, einem „szenischen Rundgang zu vergessenen Orten unerhörten Geschehens“. Drei als Engel gewandete Mädchen führen rund 50 Zuschauer vom Hein-Köllisch-Platz auf den verwunschen wirkenden, alten Friedhof der St.-Pauli-Kirche. Dort wartet an gedeckter Tafel die „Mutter“ von Clemens Schulz, jenes Pastors, der dort vor 100 Jahren jährlich 400 Konfirmanden einsegnete, das Wort „Halbstarke“ erfand und seinen Schäflein zu Sexualkunde verhalf.

Das und vieles mehr plaudert die alte Dame charmant über ihn aus. Und stellt dabei auch immer wieder Bezüge zur jüngeren Vergangenheit und Gegenwart her. Weiter geht‘s durch Torbögen und vorbei an Hinterhof-Gartenidyllen. Allenthalben gibt der Oberengel selbstbewusste Kommentare über nachbarschaftliche Wohnwerte wie den freundlichen Apotheker, den nahen Kindergarten oder verschwiegene Ecken zum Spielen. Auch über türkische Cafés, in die ja nun mal leider nur Männer gehen würden.

Nicht weit vom Fischmarkt hinterm Pinnasberg wächst ein leibhaftiger Feigenbaum aus der Mauer, hoch über einem Trümmergrundstück. Dort wartet im güldenen Reifrock „Eva vom See“ und vertellt was von ihren Träumen: Einmal upp‘n Zwutsch nach Indien gehen mit den Lichtschiffmännern. Sie ist eine der märchenhaften Gestalten, die Regisseurin Christiane Richers hier aufbietet, um so etwas wie einem poetischen Gedächtnis oder Bewusstsein von Orten Gehör zu verschaffen. Suchte sie bei der Pauli Passion in den beiden letzten Sommern Spuren historischen Geschehens auf dem Kiez direkt und kaum verbrämt auszuloten, setzt sie mit ihrem runden Dutzend Akteuren diesmal auf Verfremdung des Prosaischen.

Auf der Rückseite des Lidl-Marktes an der Reeperbahn, zu Füßen des Hochhauses zetert derweil Kasper aus Parkdeckhöhe über den düsteren Ort und findet deftige Worte für so manchen Missstand. Umgeben von den Kurven der Autorampen, wähnt man sich im Orkus umgeben von Darmschlingen, im Arsch des Kiezes. Wenig später, im U-Bahn-Schacht, entpuppen sich Edelsstahlascher als missbrauchte Weihwasserbecken und Schließfächer als ursprüngliche Schlafkojen. Die plötzlich aufgetauchte Wortführerin könnte eine jener deplatzierten Personen sein, die einen manchmal so unvermittelt mit ihrer skurrilen Weltsicht überrumpeln. Sie weiß viel zu erzählen über das Damals der Geschäfte und Gewerke. So phantastisch heute, dass Reales und Traum kaum auseinander zu halten sind.

Am Spielbudenplatz findet sich später der märchenhafte Stein, der Beziehungen und die Welt zusammenhält. Und in der Tiefgarage unter dem letzthin in der Gestaltungsdiskussion zerriebenen Areal prallen einem unkommentierte, starke Bilder entgegen. Der Anblick einer wachsenden Zahl von Kinderhemdchen auf einer langen Wäscheleine zu Klängen melancholischer Arien gibt besonders viele Rätsel auf. Der kleinste Engel entschwindet in die Ferne des Tunnels. Draußen wundert sich der Theaterflaneur, dass ihm die normalen Passanten seine Veränderung nicht ansehen. Und glaubt dem bunten Spielerhaufen mitten im Fußgängerstrom vorm Panoptikum jedes Wort des knarrzigen Schlussliedes, einer Liebeserklärung an St. Pauli. OLIVER TÖRNER

Nächste Termine: 15.8. und 22.8., 19.30 Uhr, Hein-Köllisch-Platz, Eingang des Kölibri