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Archiv-Artikel

Pitcher und Weltretter

Hedonismus schlägt Mystik: Michael Chabons schöner erster Jugendroman „Sommerland“

VON MAIK SÖHLER

Wer 9, 11 oder 13 Jahre alt ist und keine Eltern oder Verwandten hat, die gerne Kinder- und Jugendbücher verschenken, wird von Michael Chabons „Sommerland“ vermutlich nichts mitbekommen. Denn das Titelbild spricht in der Auslage eines beliebigen Buchladens wohl nur die wenigsten Jugendlichen zwischen Aachen und Zwickau an. Im Schatten eines adrett angezogenen großen Kojoten mit flammendem Haar steht ein Junge. Er trägt eine coole schwarze Kappe, aber sein weißer Dress und vor allem seine eigenartig gymnastische Haltung lösen auf den ersten Blick eher Befremden als Neugier aus.

Wer deshalb nun lieber zum daneben stehenden Jungsfußballbuch greift, verpasst einen der schönsten Jugendromane der letzten Zeit. Als das Buch vor zwei Jahren in den USA erschien, wusste hingegen jeder 9-, 11- oder 13-Jährige, dass der dargestellte Junge eben kein Bodenturner, sondern ein Pitcher beim Baseball ist. So unterschiedlich sind die kulturellen Prägungen durch den Sport dies- und jenseits des Atlantiks. Aber unterschiedlich können auch die Ansichten zum Baseball in den USA selbst sein. „Ich hasse Baseball“, lautet der erste Satz in „Sommerland“. Der ihn spricht, heißt Ethan Feld, ist 11 Jahre alt und gilt als schlechtester Spieler einer ohnehin nicht für ihre Siege bekannten Jugendmannschaft auf Clam Island. Dort lebt Ethan mit seinem Vater, einem trauernden Luftschiffbastler; die Mutter ist jüngst verstorben. Allein um seinem Vater einen Gefallen zu tun, spielt er Baseball. Ethan hasst diesen Sport, weil in seinem Regelwerk Missgeschicke als Fehler gezählt werden, und Missgeschicke gehören nun mal zu Ethan wie der Ball zum Baseball. Doch ausgerechnet er soll die Welt retten, und das auch noch bei einem Baseballspiel.

Die Welt, das ist in „Sommerland“ ein Baum, der diverse Parallelwelten trägt, unter ihnen auch die der Menschen, Mittelland. Er wird von einer Quelle versorgt, die Ethans Gegenspieler, ein baseballbegeisterter Kojote, vergiften will. Bis es aber zum entscheidenden Spiel kommt, zeigt Michael Chabon, dass er die Regeln der fantastischen Jugendliteratur beherrscht.

Alle Welten wollen detailreich dargestellt und mit einem fliegenden alten Saab durchquert, allerlei Geschöpfe wie Bigfoots oder Riesen müssen als Freunde gewonnen oder beim Baseball besiegt werden. Indianische Vorfahren verlangen Gehör, Baseballlegenden hüpfen aus der einen in die andere Welt, während die Werwolfbüttel des Kojoten Ethans Vater verschleppen und auf Dampfschlitten in Richtung der Quelle rasen. „Ich kann mir alles vorstellen“, sagt Ethan irgendwann im Gespräch mit einem Werfuchs – dieser Satz gilt wohl auch für den Schriftsteller Michael Chabon, der zuletzt mit seinem großen Roman „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier und Clay“ die blühende amerikanische Comickultur der Vierziger- und Fünfzigerjahre detailliert zu beschreiben wusste.

„Sommerland“ ist Chabons erster Jugendroman, und er hat seine vielen Welten gleich so reichlich und liebevoll ausgestattet, dass für allzu viel magisches Getue gar kein Platz bleibt. Humorvoll und beiläufig werden dort Grenzen gezogen, wo die Szenerie in vergleichbaren Romanen ins Esoterische kippt. An kriegerischen Indianermythen, die in Notsituationen Rettung bringen sollen, interessiert etwa Ethans Freundin und Reisebegleiterin Jennifer T. nur, ob die Indianerkids dabei „einigen Spaß“ hatten. Jugendlicher Hedonismus schlägt reaktionäre Mystik in jedem der neun Innings, die dem Roman eine Zeitstruktur geben. Selbst die für Kinder- und Jugendbücher klassischen Gegensätze von Gut und Böse, Retter und Dämon, Sieg und Niederlage gelten in „Sommerland“ nicht. Ethan ist ein Antiheld, der Kojote trägt zum Teil sympathische Züge, Mädchen sind mindestens genauso stark wie Jungen, und außerdem ist alles eh nur ein Spiel.

Das Leben war wie Baseball, voller Verluste und Fehler, schlechter Sprünge und planloser Würfe, ein Spiel, bei dem sogar die Champions fast ebenso oft verloren wie gewannen und selbst die besten Batter in siebzig Prozent der Fälle ausgemacht wurden. Der Kojote hatte Recht, wenn er es beenden, wenn er das ganze Trauerspiel wegen Dunkelheit abbrechen wollte“, denkt sich Ethan kurz vor dem entscheidenden Baseballmatch, geht dann aber doch aufs Spielfeld.

Das Time Magazine bescheinigte „Sommerland“ denn auch, „die ewige Lektion aller Kinderbücher weiterzutragen, nämlich wie man Kraft und Stärke in sich selbst findet“. Wer das alles längst gefunden hat, dem hilft vielleicht die „Kleine Baseballkunde“ im Anhang des Romans, um endlich ein Spiel zu verstehen, das zu verstehen sich offensichtlich lohnt.

Michael Chabon: „Sommerland“. Aus dem Amerikanischen von Reiner Pfleiderer. Hanser, München 2004, 480 Seiten, 19,90 Euro