Pflege-Kommentar: Eine Aufgabe für alle
Die menschenwürdige Pflege im Alter wird künftig nur dann zu erreichen sein, wenn sich sowohl der Staat als auch die Unternehmen stärker an der Finanzierung beteiligen.
F rau K. wohnt seit über zehn Jahren im Pflegeheim, kürzlich wurde sie 102. Sie kann nicht mehr genug sehen, um Bücher zu lesen, sie hört so schlecht, dass sie nicht versteht, was im Fernsehen läuft, das Gehen fällt ihr schwer. Nach den Maßstäben, die der Medizinische Dienst an gute Pflege anlegt, ist Frau K. im Pflegeheim rundum gut versorgt. Mit den Pflegerinnen und Pflegern versteht sie sich bestens, doch diese sorgen nicht nur für Frau K., sondern für 30 weitere Bewohner auf der Etage. Fragt man Frau K., was sie den ganzen Tag macht, antwortet sie, ohne zu zögern: "Nischt. Nur dösen."
Das Beispiel zeigt, wie kurzatmig die Pflegedebatte zuweilen geführt wird. Sie folgt der gleichen Satt-und-sauber-Logik wie die Pflege selbst. Thematisiert werden Druckgeschwüre und Flüssigkeitsmangel. Unter diesen Symptomen leidet aber, grausam genug, nur eine Minderheit der Pflegebedürftigen. Dagegen werden die sozialen Mängel in der Pflege kaum thematisiert: der Entzug an Bindungen, Gesprächen und Aufmerksamkeit, unter dem viele Pflegebedürftige und auch die sie pflegenden Angehörigen leiden.
Menschliche Pflege, das heißt auch Betreuung, die soziale Bedürfnisse stillt, genauso wie Hunger oder Durst. Auch die Bundesgesundheitsministerin, aus deren Haus der Gesetzentwurf zur Pflege stammt, fordert eine Pflege mit menschlichem Antlitz und will etwa wohnortnahe Beratungscenter einrichten, Fallbetreuer einsetzen und die Betreuung verbessern. Das sind kleine, feine Änderungen, doch was fehlt, ist eine grundsätzliche Diskussion darüber, wie die Schwachen und Pflegebedürftigen künftig besser in die Gesellschaft integriert werden können.
Frau K. ist die Vorbotin jener wachsenden Gruppe von Menschen, die in 20 Jahren die Pflegeeinrichtungen bevölkern werden. Betagt und kinderlos. Versorgt, aber einsam. Im Jahre 2030 werden nach vorsichtigen Prognosen der Bundesregierung über 3 Millionen Menschen pflegebedürftig sein. Die Greise von 2030 sind derzeit zwischen 45 und 65. Viele von ihnen pflegen heute ihre Eltern oder Verwandte. Doch von diesen 13 Millionen Menschen mittleren Alters lebt gegenwärtig schon jeder Vierte allein, mit steigendem Alter nimmt die Zahl der Mehrpersonenhaushalte dann immer weiter ab.
Wenn es darum geht, wer sich ihrer annimmt, wenn sie selbst hinfällig und hilfebedürftig werden, sehen Konservative traditionell die Familie in der Pflicht, während die Linken den Staat anrufen. Doch die aufopfernden Nichten, Töchter und Schwiegertöchter, auf die die heutigen Alten zurückgreifen, werden rar. Zudem sinkt die Pflegebereitschaft in den Familien. Wie das Statistische Bundesamt konstatierte, stieg die Zahl der Heimunterbringungen im Jahre 2005 um 6 Prozent.
Pflegeexperten, wie der Sozialpsychologe Klaus Dörner, favorisieren daher das Modell "Familie plus". Demnach kümmern sich neben den Angehörigen auch die Nachbarn und eine wachsende Zahl von Ehrenamtlichen um die Alten und Hilfebedürftigen. Eine schöne Vorstellung, doch die Voraussetzungen dafür sind stabile nachbarschaftliche und großfamiliäre Bande. Diese existieren bestenfalls als Inseln. Die dorfähnlichen Strukturen sind durch den frühen Kapitalismus zerstört worden, um dem Arbeitsmarkt freie und flexible Arbeitskräfte zuzuführen.
Es spricht wenig dafür, dass der globalisierte Kapitalismus seine Enkel wieder in den Schoß der Familie entlässt. Wer solche zivilgesellschaftlichen Modelle zu Ende denkt, muss für eine Gesellschaft plädieren, in der nicht das Kapital, sondern das Soziale im Vordergrund steht. Dass der Kapitalismus bis 2030 aufgibt, ist derzeit jedoch nicht zu erwarten.
Der Ruf nach dem Staat von linker Seite ist in dieser Situation richtig. Dieser darf sich nicht aus der Verantwortung für die Pflege zurückziehen. So muss etwa das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit staatlicher Hilfe gelöst werden. Doch die Anreize, die die Koalition setzen will, sind karg. Es ist und bleibt praktisch unmöglich, die alzheimerkranke Mutter zu versorgen und nebenbei einer geregelten Arbeit nachzugehen. Das schafft niemand. Entweder man pflegt oder man arbeitet.
Da immer mehr Frauen und Männer die Familiengründung auf jenseits der dreißig verschieben, werden auch ihre Kinder unweigerlich in diesem Dilemma stecken. Wenn die Eltern das neunte Lebensjahrzent erreichen - und die Chancen sind bei steigender Lebenserwartung gut - und das Risiko, pflegebedürftig zu werden auf 25 Prozent steigt, sind die Kinder um die 50 und berufstätig. Es muss also Strukturen geben, die es ermöglichen, sich Pflege und Beruf zu widmen. Was liegt näher, als die bereits existierenden Strukturen für Kinderbetreuung konsequent zu kopieren.
Die Kindertagesstätten heißen dann Tagespflegeeinrichtungen, in denen die Kinder ihre Eltern abgeben. Solche gibt es zwar schon, doch in geringer Zahl. Zudem bezahlt die Mehrzahl der Pflegebedürftigen den Tagessatz von 40 bis 50 Euro aus eigener Tasche. Mit der Reform soll die Tagespflege zwar Kassenleistung werden, aber nicht in vollem Umfang. Von einem gesetzlichen Anspruch auf Tagespflege, analog zur Kinderbetreuung, sind die Pflegebedürftigen noch immer weit entfernt.
Der Erziehungsurlaub wird zur zweiten Elternzeit, zum Pflegeurlaub. Hier will die SPD zehn Tage bezahlte und sechs Monate unbezahlte Pflegeauszeit durchsetzen. Aussteiger sollen danach problemlos wieder in den Beruf zurückkehren können. Doch ein halbes Jahr Pflegezeit kann nur ein Anfang sein. Die wenigsten Pflegebedürftigen scheiden nach sechs Monaten planmäßig aus dem Leben. Die Pflegezeit muss der tatsächlichen Pflegedauer angepasst werden. Da sind auch die Unternehmen gefragt. Bisher gewähren nur wenige jene Flexibilität, die sie von ihren Arbeitnehmern verlangen. In einigen Betrieben sind frei einteilbare Arbeitszeiten aber bereits mit Erfolg erprobt.
Die Tagesmutter muss schließlich umgetauft in Pflegehelferin und staatlich anerkannt und gefördert werden. Denn menschliche Pflege heißt auch, dass mehr Menschen sich um die Pflegebedürftigen kümmern müssen. Hier sollte der Staat weitere Akteure in die Heime und Wohnzimmer holen.
Die Bundesregierung setzt auf Gemeinsinn und will ehrenamtliche Gruppen stärker sponsern. Nichts spricht gegen ehrenamtliche Betreuer, doch angesichts von knapp vier Millionen Menschen ohne Arbeit ist es honoriger, den steigenden Personalbedarf mit einer aktiven Beschäftigungspolitik zu verbinden. Der rot-rote Senat in Berlin erprobt derzeit das Modell "Stelle statt Stütze". Mit Hilfe eines solchen öffentlich geförderten Beschäftigungssektors könnten Menschen, die sonst Hartz IV beziehen würden, als Pflegehelferinnen und -helfer arbeiten. Ergänzend zu den Pflegekräften sollen sie vor allem Zeit mit den zu Pflegenden verbringen und für sie da sein.
Das klingt banal, aber es stellt die bisherige Pflege auf den Kopf. Die Pflegedienste arbeiten nach dem Prinzip: je kürzer, desto wirtschaftlicher. Zeit ist eine knappe und daher teure Ressource. Viele Familien greifen deshalb auf osteuropäische Pflegerinnen zurück, die zu bezahlbaren Preisen für die Hilfebedürftigen da sind. Es bleibt ein bitterer Beigeschmack: Erstens verlagert man hiesige Pflegeprobleme damit in andere Länder, denn wer kümmert sich um die greisen Polen, Bulgaren und Ungarn, deren Töchter in Deutschland arbeiten? Zweitens sind die Bedingungen - drei Monate Eingesperrtsein zu 2 Euro pro Stunde - genauso menschenunwürdig wie schlechte Pflege. Die mehr als 760.000 legal und 100.000 illegal Beschäftigten im Pflegesystem besser zu entlohnen, ist daher ein weiterer notwendiger Schritt zu mehr Menschlichkeit in der Pflege.
Diese Verbesserungen kann kaum jemand privat bezahlen. Sie sind nur kollektiv finanzierbar. Die Wirtschaft als Teil der Gesellschaft darf sich deshalb aus der Finanzierung der Pflege nicht verabschieden, wie Unternehmen und Union permanent fordern. Die Unternehmen müssen steigende Kosten gleichberechtigt mittragen. Das heißt, sie müssten sogar stärker als bisher zur Kasse gebeten werden. Die Finanzierungsproblematik hat die Koalition mittels einer kleinen Beitragsanhebung auf die Zeit nach den nächsten Wahlen vertagt. Doch die Zeit drängt. Denn menschliche Pflege für alle, die sie benötigen, wird es nur geben, wenn sich die Gesellschaft als Ganzes dieser Herausforderung stellt.
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