Peter Doig - Retrospektive: Ein Schwamm im Exil
Eine große Retrospektive, die jetzt in der Frankfurter Schirn zu sehen ist, zeigt den Maler Peter Doig als Meister des Heimlichen: Er schraffiert sich seine Landschaft.
Er ist der ideale Künstler für eine frühe Retrospektive: Das Werk ist überschaubar, die zentralen Bilder sind wohlbekannt, und er macht nicht das, was alle machen. Er lebt auch nicht dort, wo alle leben, sondern auf einer fernen Insel. Peter Doig, vor neunundvierzigundeinhalb Jahren unter diesem bündigen Namen in Edinburgh zur Welt gekommen, ist ein Exot im Kunstbetrieb, und mit seinen kleinen, flinken Augen in einem breiten Gesicht zugleich ein Archetyp, aus festem Holz geschnitzt.
Die Ausstellung in Frankfurt am Main ist nach der Tate in London und dem Pariser Musée dArt moderne auf der dritten und letzten Station. Die Schirn schläft eben nicht. Sie widmet Doig einen von zwei Gebäudeflügeln, wobei der Besucher merkwürdigerweise an Doigs "Studiofilmclubs"-Bar vorbeimuss, bevor es richtig losgeht. Da die Schirn keinen Rundgang bietet, sieht man also Doigs Ölgemälde von 1989 bis 2007 und auf dem Rückweg das Ganze andersherum, wobei es der mittlere, als "3" nummerierte Raum ist, der den Maler auf der Höhe seiner Kunst zeigt. Doig hatte zweimal in Kanada gelebt, nämlich im Alter von sieben bis zwanzig, und dann war er, nach Abschluss seines Bachelors, nach Montréal gegangen und erst 1989 nach London zurückgekehrt, um an der Chelsea School of Art den Magister nachzuschieben und sich ans britische Kunstwunder anzudocken, was gelang. In London begann er, die nordische Landschaft im Gedächtnis aufzurufen, ein Bildgestöber, dem er durch Spiegelung - vertikal oder horizontal - eine Ordnung verpasste. Man könnte sagen, "Window Pane" zeige einen Winterwald, gespiegelt in einem Teich, und "Blotter" denselben Teich gefroren, mit einer Figur, die sich im Eis betrachtet. Aber die Titel sind nicht illustre Zugaben, sondern führen auf eine andere Spur, indem nämlich das "Fensterglas" in die Unterwelt der Undine schaut, während das "Löschpapier" ein psychedelisches Erlebnis aufruft, eine Überblendung von Schneewinter und LSD, die Welt riesig und unberührbar - in der Imagination des Subjekts.
Die Schirn hatte Doig schon vor drei Jahren in ihrer "Wunschwelten"-Schau untergebracht, die eine "Neue Romantik in der Kunst der Gegenwart" entdecken wollte. Am Mittwoch beschrieb eine Kuratorin seine Farben als "süßlich" und wollte ihn auch - durch Nennung des Wortes - vom Kitsch freisprechen. Genauso gut könnte man aber sagen, dass seine Himmel schrundig seien, seine kleinen Staffagefiguren ungelenk, seine Farben giftig. Er ist durch die Schule der Motiventstellung gegangen, hat bei Polke den Übergang von Motiv und Muster studiert, bei Kiefer das Antikisieren, die Überlagerung von Perspektive und Grund. Von Hockney und Bacon kommt das jedenfalls nicht her.
Der Saal mit den Winterbildern enthält alle Techniken in nuce. In "Ski Jacket", einem der großen Formate der Ausstellung, erfolgt die Spiegelung über die vertikale Teilung wie beim Rorschachtest. Als zentrales, aber durch die Montage zweier Leinwände geteiltes Motiv, dient ein schwärzlich schimmerndes Trapez, offensichtlich ein abschüssiges Kieferwäldchen in einer alpinen Landschaft, auf deren Abhängen die leuchtenden Skijacken als Konfetti verzeichnet sind. Es ist schon interessant, wie er den Mythos meidet: den Mythos des Bergs, den Mythos des Winterressorts, den der Massengesellschaft - obwohl Doig zugibt, eines von Gurskys Pistenstudien kurz zuvor gesehen zu haben. Doig schraffiert sich seine Landschaft zusammen, wahrscheinlich zwischen den Zähnen ein Liedchen pfeifend. Am Ende ist da ein Bild, durchaus, aber man könnte auch sagen: eine Membran. "Ski Jacket" atmet. Während das Auge kreist, verformt sich der Ausgangspunkt. Man kommt nie dahin zurück, wo man begonnen hat.
Diese Bilder sind so filigran, verspielt und durchdrungen, dass die Perspektive kaum ins Gewicht zu fallen scheint. Sie ist jedoch entscheidend. Ein Beispiel: Die Vorstudie von "The Heart of Old San Juan" (1999) zeigt einen hellen Basketballplatz in einer Aufsicht mit einer Figur im Schattenriss; eine helle Geometrie, grün gerahmt mit blassblauem Himmel. Sehr aufregend ist das nicht. In der Ausführung auf Leinwand ist man dem Sportplatz näher gerückt (wie mit einer hydraulischen Plattform), er ist nun selbst grün (wie unter Halogen) erleuchtet, ein patagonisches Bergmassiv markiert den Horizont gegen einen nächtlichen Himmel. Die Figur ist verschwunden, aber der Schatten des Ballkorbs in der Ferne hat sie in sich aufgenommen, als tanzende Miniatur. In der verknappten Aufsicht ist ein Häuschen am linken Bildrand wichtiger geworden, auf dessen Dach ein Billboard aufgestellt ist, handgemacht, das ein Herzmotiv zeigt. Dabei hat der Maler die Perspektive zentriert und damit auch die Ballkörbe, die sich in der Nachtszenerie wie gigantische Notenpulte gegenüberstehen. Alles ist feierlich, rätselhaft und am rechten Platz. Es kann also losgehen.
Die Bereinigung des "Herzens des Alten San Juan" um die Figur auf dem Spielfeld wirft die Frage auf, ob Doig all die Kobolde und Freaks überhaupt braucht, die seine Landschaften bevölkern wie elektrogeschockte Schaufensterpuppen. Die Objektwelt dieses Werks ist derartig animiert, dass man froh ist, sie für sich allein zu haben - wie in den äußerst raffinierten Ansichten eines Le-Corbusier-Wohnblocks, der als Uridee hinter einem Frühlingswäldchen aufscheint, die Baumstämme bereits angeweißelt, ergriffen von der Spiritualität des Meisters. Was für eine suggestive Deutung: die Ikonen der Moderne als Verschönerungen der Natur.
Die Insel, auf der Peter Doig seit sechs Jahren lebt, ist Trinidad, die südlichste westindische Insel vor der Küste Venezuelas. Dorthin hatten ihn seine schottischen Eltern schon als Kleinkind verfrachtet, noch vor Kanada, sodass man sagen könnte, er sei zurückgezogen in seine Kindheit. Eine gewisse feierliche Naivität hat Einzug gehalten in seine Bilder aus den letzten Jahren, offene Anleihen bei Matisse und Gauguin, auch zugleich.
Das ist typisch für Doig, seine Ambivalenz in Bezug auf Techniken, Motive und Quellen. Man könnte sein Winterbild "Ski Jacket" als Verschnitt bezeichnen - perspektivisch Cézanne und taktil Polke -, ohne ihm Unrecht zu tun. Er lässt es drauf ankommen. Er ist ein Schwamm im Exil.
Doigs Hang zum Domestischen, seine Gleichbehandlung des Gewöhnlichen (handbemalte Mauer) und des Todschicken (Le Corbusiers Primärfarben) ist sein kreativer Schlüssel. Sein Stichwort der "homeliness" bezieht Judith Nesbitt im Katalog, der aus dem Britischen komplett übernommen und sehr präzise übersetzt wurde, auf Freuds Ausführungen zum Begriffspaar "heimlich/unheimlich", das im englischen Text auf Deutsch eingeführt wird. Der deutsche Katalog greift direkt zurück auf Freuds Text, in dem es heißt: "Wir werden überhaupt daran gemahnt, dass dieses Wort heimlich nicht eindeutig ist, sondern zwei Vorstellungskreisen zugehört, die, ohne gegensätzlich zu sein, einander doch recht fremd sind, dem des Vertrauten, Behaglichen und dem des Versteckten, Verborgengehaltenen", wobei Freud seine Etymologie ins Paradoxe führt: "Also heimlich ist das Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt". Treffend zitiert, denn es stimmt, dass Doigs Bilder so viel zeigen, wie sie verbergen; was sie verbergen, ist aber nicht der Fetisch der Moderne, die Leere, sondern ein gewisses Etwas, das Sehnsuchtsgefühle weckt.
Der größte Raum der Ausstellung gehört den 130 selbst gemalten Plakaten, die einen Projektionsraum rahmen: das Mittwochskino, das Doig in seiner Rumfabrik in Port of Spain abhält. Hier sehen wir Doig als Gestalter im Kleinen und Formdieb im Großen. Die Schirn nimmt die Kinoidee auf und zeigt, und zwar digital wie am ursprünglichen Ort, rare Filme, die von Doigs Studenten aus Düsseldorf betreut werden, inklusive der Bar. Ja, dieser Herr Doig ist nämlich inzwischen Professor für Malerei dort. Doch es ist zu früh, ihn einen deutschen Maler zu nennen. Wir werden sehn.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!