Paris, später Abend: Fußball vs. Twitter
RESTER VIVANT
von
Peter Unfried
Aus dem Dunkel der Stadionkatakomben auf die Tribüne zu treten; das ist ein wunderbarer Moment. Jedes Mal. Diesmal besonders. Du hast einen der besten Plätze in einem der schönsten Stadien bei einem der größten Spiele einer Fußball-EM. Du musst nur zuschauen.
Man wird daher meine Irritation verstehen, als Herr Dschango auf dem Platz neben mir mit dem Anpfiff ein sich mit dem Internet verbindendes Gerät herausholt. Er ruft seine Timeline bei Twitter auf und fängt an zu scrollen. Ich übersetze: Er schiebt den sichtbaren Ausschnitt seines Displays rauf und runter, um zu sehen, was andere Leute gerade so umtreibt. Was sie tun, was sie schreiben, welche Videos sie lustig finden.
Es ist einer der seltenen Abende, an denen ein EM-Spiel sich nicht hauptsächlich analytisch erschließt, sondern unmittelbare Emotionen und Erfahrungen vermittelt. Anders gesagt: Wumm, wumm, bumm. Ein Gefühl ist besonders angenehm: Du bist zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Aber Herr Dschango kriegt manche Tore nicht mit. Er schaut auf seine Twitter-Timeline.
Jetzt frage ich Sie: Was soll die Scheiße?
Und antworte gleich mal selbst: Die Realität scheint manchen nicht nur in der U-Bahn so wenig ergiebig, dass man ihr ins Digitale entfliehen muss. Die Wirklichkeit der Welt hat für sie keine Kraft mehr. Sie denken, Wirklichkeit sei eine Reduktion der Möglichkeiten. Und haben nicht mehr Lust, sich die konkrete Welt anzueignen und damit selbst ein Teil von ihr zu sein.
Wäre ich ein Kulturpessimist, würde ich das Ende ausrufen. Wäre ich ein Grüner, würde ich Herrn Dschango ausschimpfen.
Doch ich hab genug zu tun, nicht auch auf seine verdammte Twitter-Timeline zu starren.
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