Panter Preisträger von 2021: Scheinbare Spinner als wahre Realisten

Wasserstraße statt Autobahn: Der Nürnberg-Fürther Stadtkanal e.V., Panter Preisträger im Vorjahr, hält einen Kongress ab und freut über viele neue Impulse

Hartnäckiger Träumer: Theobald Fuchs bei einer Begehung am Frankenschnellweg Foto: Jo Seuss

VON JO SEUSS

taz Panter Preis, 31.10.22 | Der mannshohe rot-weiße Leuchtturm mit einer kleinen Diskokugel oben drauf steht symbolträchtig im Foyer des Stadtteilzentrums Villa Leon, als wolle er alle neuen Bootsmänner begrüßen.

Der Verein Nürnberg-Fürther Stadtkanal hat zum ersten Kongress geladen, womit er ein Versprechen einlöst, das er bei der Bewerbung um den Panter Preis der taz Panter Stiftung im vergangenen Herbst gegeben hat. Die Leser:innen kürten das Konzept zum Sieger – und mit dem Preisgeld von 5.000 Euro haben die Aktiven um den Vereinsvorsitzenden Theobald Fuchs ein spannendes, achtstündiges Vortrags- und Diskussionsprogramm auf die Beine gestellt.

Die Villa Leon ist ein passender Ort, gehörte das Gebäude doch zum stillgelegten Nürnberger Schlachthof, vor dem sich lange ein Hafen des alten Ludwig-Kanals aus dem 19. Jahrhundert befand. Die Wasserstraße musste in den 1960er Jahren einer Art Stadtautobahn mitten durch Nürnberg weichen, als landauf, landab die autogerechte Stadt das Maß aller Dinge war. Der sogenannte Frankenschnellweg hat sich allerdings als Problemkind entpuppt, weil er stauträchtig, lärmend und abgasintensiv ist.

Wider die Schnellstraße

Dies hat dazu geführt, dass seit Jahrzehnten über einen Umbau mit Untertunnelung und grüner Kosmetik an der Oberfläche nachgedacht wird. Gegen die beschlossenen Pläne klagt seit 2015 allen voran der Bund Naturschutz (BUND), und das durchaus erfolgreich. Die Stadt musste nachbessern, eine aufwändige Umweltverträglichkeitsprüfung nachreichen und zusehen, wie die Kosten von zuerst 200 auf fast 700 Millionen Euro hochschnellten.

Angesichts dessen lehnen Kritiker:innen das „Dinosaurierprojekt“, wie Tom Konopka vom BUND nicht müde wird zu betonen, entschieden ab und plädieren für alternative Konzepte. Auch Ernesto Buholzer, Stadtrat der alternativen Politbande, hält einen Neuansatz für notwendig. Zuerst habe er die 2018 vorgestellte Idee einer Stadtkanal-Renaissance für Spinnerei gehalten. Wie viele, die sich intensiver damit auseinandergesetzt haben, findet er heute: „Der Frankenschnellweg-Ausbau ist verrückter als der Stadtkanal.“

Die Vision, die Theobald Fuchs und Mistreiterin Michaela Schneider auf dem Kongress vorstellen, hat drei Eckpunkte: Innovation, Tourismus, Gewerbeansiedlung und Personentransport auf dem Wasser gehören zum Aspekt Wirtschaft; unter Umwelt stehen neue Kleingärten, die Frischluftschneise im Westen der Stadt, der grüne Gürtel durch die Entsiegelung der Asphaltpisten, die kühlenden Wasserflächen, die Verbindung ökologischer Flächen und die Reduktion von Abgasen und Abrieb; und unter Soziales fallen Freizeit, genossenschaftlicher Bau und Betrieb sowie der soziale Wohnungsbau, der auf 40 Hektar auf freiwerdender Auffahrten entstehen könnte.

Verkehr ist kein Naturgesetz

Auf die Frage, wo die werktäglich über 50.000 Fahrzeuge auf dem Frankenschnellweg hinsollen, gibt es folgende Antworten: Ausbau von Nah- und Radverkehr, Transport mit Booten auf dem Wasser und eine Verkehrswende, die bei den Autos zum Umfahren der Stadt und zum Umsteigen auf andere Verkehrsmittel führt.

Hier hakt auch Hochschulprofessor Harald Kipke ein, der über intelligente Verkehrsplanung forscht. „Ist der Verkehr als Naturgesetz gottgegeben?“, fragt er provokant und hält es für himmelschreiend, „wie hier eine Stadt zerstört wird“. Die Menschen im Raum Nürnberg müssten „erst mal sensibilisiert werden“, um die Chancen für eine echte Verkehrswende zu sehen. Gerade mit Blick auf die Klimakrise und notwendige CO²-Einsparungen sei es notwendig, vieles neu zu denken – vom Gebot der „15-Minuten-Stadt per Fahrrad und zu Fuß“ über den „offensiven ÖPNV-Ausbau“ bis zum Aus für Privat-Autos. Sein Fazit lautet: „Es ist mehr möglich, als man denkt.“

Dass Bilder noch mehr sagen als tausend Worte beweisen Aufnahmen aus Grenoble, wo 2004 am Grand Boulevard eine Fahrspur gekappt wurde. Auch Anne Klein-Hitpaß vom Deutschen Institut für Mobilität sorgt mit Fotos von der abgebauten „Siegener Platte“ für Aufsehen. Da jede Stadt anders sei, gibt es ihrer Ansicht nach keine Patentlösung. Trotzdem müsse die Bundespolitik „an Stellschrauben gegen umweltschädliche Förderung drehen“, damit die Verkehrswende schneller und mutiger geschehe.

Utrecht als Vorbild

Am eindrucksvollsten ist beim Kongress der Auftritt von Eelco Eerenberg, dem Mobilität-Stadtrat von Utrecht, der sich per Zoom einklinkt. Die holländische 350.000-Einwohner-Stadt hat genau das gemacht, was der Nürnberg-Fürther Stadtkanal erreichen möchte: Eine Stadtautobahn aus den 1960er Jahren wurde zu einem Kanal verwandelt. Nach einem Bürgerentscheid anno 2002 dauerte es zwar bis zum Sommer 2011, bis die Arbeiten für das knapp ein Kilometer lange Stück begannen. Im Herbst 2021 war die neue Wasserverbindung zwischen Bahnhof, Einkaufszentrum und der historischen Altstadt aber vollendet.

In Utrecht stößt die ebenso innovative wie ökologische Form der Stadtreparatur auf viel Begeisterung, was auch damit zu tun hat, dass Partizipation angesagt war und viel Wert auf Kultur, Grün, Freizeit und Fahrradförderung gelegt wurde. „Wir sind stolz auf das Projekt in Utrecht“, sagt Eerenberg. Vorrangig wurde es von der Stadt, aber auch mit Hilfe von Investoren finanziert.

Und es hat sich herumgesprochen: Utrecht ist die am stärksten wachsende Stadt in den Niederlanden und besitzt am Hauptbahnhof das größte Fahrradparkhaus der Welt mit 12.500 Stellplätzen. Kein Wunder, dass etliche Kongress-Gäste planen, das Vorbild nächstes Frühjahr zu besuchen.

Alternativen auf dem Prüfstand

Bei einem einstündigen Spaziergang rund um den Frankenschnellweg fällt beim näheren Hinsehen auf, dass die Stadtautobahn, ursprünglich als ein Interim während des U-Bahnbaus gedacht, vielfach provisorisch wirkt und als dringend sanierungsbedürftig gilt. Kostenpunkt: gut 100 Millionen Euro. Wie hoch im Vergleich die Kosten einer Stadtkanal-Realisierung sind, lässt sich bisher nicht belastbar beziffern. Notwendig dafür ist eine professionelle Untersuchung.

Bei der abschließenden Diskussionsrunde mit zwei Stadträt:innen verständigt man sich am Ende auf einen Antrag, bei dem alle Alternativen zum kreuzungsfreien Ausbau des Frankenschnellwegs auf den Prüfstand kommen. Laut dem Grünen-Verkehrsexperten Mike Bock, der den Stadtkanal als „ein schönes Projekt“ und „eine Utopie, die wir brauchen“ bezeichnet, wird sein Politbande-Kollege Ernesto Buholzer nun die Initiative ergreifen, die von der Grünen-Fraktion unterstützt wird.

Auch SPD-Stadträtin Christine Kayser signalisiert Zustimmung, obwohl sie der Stadtkanal-Idee als „sehr utopisches Projekt“ wenig Chancen einräumt und sich selbst um die Pegnitz kümmern will. Anders sieht das Christoph Wallnhöfer vom Verkehrsclub Deutschland, der mit einem kleinen Prototyp für ein VAG-Linien-Stadtkanal-Boot für viel Vorfreude gesorgt hat. „Die Leute sind schon weiter“, sagt er an die Adresse der Kommunalpolitiker:innen.

Wende mit Vernunft

Moderatorin Kathi Mock warnt selbige davor, die Aktiven des Nürnberg-Fürther Stadtkanals zu belächeln. Sie erinnert an Professor Rolf Kuhn, dem Ex-IBA-Geschäftsführer in der Lausitz, wo eine Braunkohleregion kulturell und architektonisch beispielhaft aufgewertet wurde. Seine Erklärung, wie es geklappt hat, ist eine zentrale Botschaft des Stadtkanal-Kongresses geworden: „Die scheinbaren Spinner sind manchmal die wahren Realisten.“

Für Vereinschef Theobald Fuchs ist der Satz einer von vielen „wunderbaren Impulsen“, die er mitgenommen hat: „Man hatte den ganzen Tag das Gefühl, unter Gleichgesinnten mit Logik und Vernunft über die reale Möglichkeit einer echten Wende der Nürnberger Verkehrspolitik zu sprechen.“ Von zwei Ecovillage-Aktiven aus Hannover gab es den Tipp, frühzeitig die Ehren- durch Hauptamtliche zu ergänzen.

Ansonsten ist Fuchs „beseelt“, dass der Prüfantrag für alternative Konzepte „in greifbare Nähe gerückt scheint“. Und er freut sich, dass die Zahl der Mitglieder von 56 auf 71 Mitglieder gestiegen ist. Alle Neuen bekommen aus dem rot-weißen Leuchtturm ein Begrüßungsset mit drei Ahoj-Brause-Tütchen und einer kleinen Schaufel.

Weitere Infos und Videos vom Kongress gibt es online unter www.nfsk.de