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Archiv-Artikel

PUTIN WILL SICH NICHT DER KRITIK DER DEUTSCHEN ÖFFENTLICHKEIT STELLEN Das wahre Gesicht des Präsidenten

Wladimir Putin hat die für heute geplante Deutschlandvisite verschoben. Das war zu erwarten. Wie hätte es ausgesehen, wenn der Kremlchef in der Stunde der größten Not seinem Land den Rücken kehrt. Der Westen hätte dafür wenig Verständnis aufgebracht. Weniger als die russische Öffentlichkeit zumindest. In Russland sind die Menschen es gewohnt, dass die Führung ihrem Schicksal kalt und rücksichtslos begegnet. Wir haben es in Beslan gesehen. Zwar wären bei der Visite auch in Russland kritische Stimmen laut geworden, überwogen hätte aber ein anderer Tenor: Putin trifft Schröder, den verlässlichsten Freund im Kampf gegen den Terror.

Schröder kann dem Kremlchef den Rücken stärken und ihn entlasten. Eins kann der Bundeskanzler indes nicht, und das ist der Grund der Absage: kritische Fragen einer bestürzten Öffentlichkeit unterdrücken. Tausende von Ungereimtheiten begleiten die Geiselaffäre. Der Versuch der EU, mehr Informationen zu erhalten, wurde vom Kreml brüsk mit einer diplomatischen Demarche beantwortet. Als hätten die Partner in der Antiterrorkoalition kein Recht darauf, zu erfahren, was beim Bundesgenossen tatsächlich geschehen ist. Putin sucht keine Partner, sondern Komplizen. Berlin ist darauf eingegangen und wird für die Konsequenzen der Ursachenvernebelung geradestehen müssen.

Daheim hat Putin keine Konsequenzen zu befürchten. Kremlchefs treten nicht aus freien Stücken zurück. In Deutschland hätte er aber einen schlechten Eindruck gemacht: wie vor zwei Jahren in Brüssel, als er einen nach Tschetschenien fragenden Journalisten zur Beschneidung nach Moskau einlud, da man dort Experten hätte, die das so erledigten, dass nichts nachwüchse. Die letzten Niederlagen haben den Präsidenten noch rasender gemacht. Putin könnte sein wahres Gesicht zeigen und auch öffentlich in das Argot der Kreml-Führungsebene verfallen. Das wäre peinlich. Vor allem würde es Zweifel an der Moskauer Terrorpolitik schüren und eine Frage aufwerfen, die der Kreml genauso fürchtet wie den eigenen Gesichtsverlust: Gebührt Moskau ein Platz unter den führenden Industrienationen? KLAUS-HELGE DONATH