PRESS-SCHLAG: Wohlgenährte Zukunft
■ Erste Einzel-Weltmeisterschaften im Kunstturnen
Der allgemeine Pessimismus im Vorfeld dieser Pariser Turn- WM erwies sich als nicht berechtigt. Der Internationale Turner- Bund (FIG) hatte eine Inflation der Kunstturnwettkämpfe beschlossen, die nun, nur ein halbes Jahr nach der letzten „regulären“ WM, mit einer erstmals an den einzelnen Geräten ausgetragenen „Einzel- Weltmeisterschaft“ ihren Anfang nahm. Zu sehen wären nur noch Gerätespezialisten und die Topleute würden im olympischen Jahr sowieso fehlen, waren die Mutmaßungen. Doch fast komplett traten die Weltmeisterinnen und Weltmeister von Indianapolis 1991 auch in Paris 1992 an, die neuen Einzel- Weltmeister waren weder Unbekannte noch Fachidioten und das Gesamtniveau war erstaunlich hoch.
Vielen hatten die Pariser Titelkämpfe allerdings nicht recht in den ausgefüllten Kalender der Olympiavorbereitung gepaßt. In vier Wochen gibt es Europameisterschaften und in einem Vierteljahr die Sommerspiele in Barcelona. So zeigten manche nur teilweise ihr Können. Svetlana Boginskaya aus Weißrußland etwa, die an ihrem Paradegerät, dem Boden, nicht antrat, „um nicht alles zu verraten“. Die Pariser Titel können also nicht einfach addiert werden, obgleich Vitali Scherbo (Weißrußland) und Jing Li (China) mit je zwei Gold- und einer Silbermedaille bei den Männern sowie die kräftige Kim Zmeskal (USA) mit zweimal Gold und die elegante Henrietta Onodi (Ungarn) mit einer Gold- und einer Silbermedaille bei den Frauen die Stars von Paris waren.
Apropos Stars. Gibt es die im Turnen überhaupt? Sind sie, so wie beim Tennis oder Fußball überhaupt möglich? Nicht nur, daß die Sportart als Ästhetikum schlechthin auf einzelne Persönlichkeiten gar nicht angewiesen ist; das Kunstturnen ist zu kurzlebig, als daß sich Erfolge einzelner über einen längeren Zeitraum wiederholen ließen. Die ungeheuerliche Leistungsdichte tut ein übriges. Ob die FIG-Bonzen dieselben Überlegungen hatten, bleibt dahingestellt. Das neue System aber geht in genau die Richtung, die das Kunstturnen aus dem bisherigen Schattendasein herausholen kann: die Darstellung einer Sportart als Schau mit Unterhaltungswert.
Was sagen schon Normal-Sportbegeisterten Namen wie Gil Su Pae aus Korea, der seine Beine wie eine Gazelle um das Seitpferd schwingt? Daß der Slowene Aloje Kolman mit einem geschraubten Flugteil („Kovacs“) am Reck gut ist, sieht man auch ohne Fachwissen. Das Publikum fiebert bei den Risiken mit, welche die Turner drei Meter über dem Hallenboden eingehen. Und wenn Turnkönigin Boginskaya am Schwebebalken wackelt, so ist der Applaus nicht geringer als bei der sicheren Kim Zmeskal. Die 12.000 im Sportpalast von Bercy drückten ihre Begeisterung mit „La Ola“ und standing ovations aus und wollten das Ende der Veranstaltung gar nicht recht akzeptieren.
Wettkämpfe dieser Art, von einem Moderatoren durchgezogen, der aus dem nahegelegenen, neueröffneten Disneyland ausgeliehen schien, haben Zukunft. Paris war noch lange nicht das Nonplusultra, zeigte aber deutlich die Richtung. Es war bestimmt kein Zufall, daß diivom Eiskunstlaufen übernommene „Kiss & Cry-Area“ (nach der Übung zwischen Blümchen brav dasitzen, auf die Wertung warten, Küßchen geben, sich freuen oder weinen) nun auch im internationalen Turnen Verwendung findet.
Alles sollte jedoch aus anderen Sportarten, die gesteigerten Wert auf Showeffekte legen, nicht übernommen werden: Propaganda und große Worte, um sich selbst in den Himmel zu heben etwa. Bela Karolyi, Trainer der einstigen Superturnerin Nadia Comaneci, der Olympiasiegerin Mary-Lou Retton und jetzt von Kim Zmeskal tönte erst, die Einzel-WM sei „einfach nichts“ und es wäre besser gewesen, gar nicht erst zu kommen. Nach den Goldmedaillen seines wuchtigen Schützlings avancierte Karolyi zum Wendehals. Kim Zmeskal sei der neue Typ, das müsse endlich verstanden werden. Boginskayas Zeit sei vorbei, die „Dünnen“ hätten keine Chance mehr. Zmeskal sei „well-fed“ und peile den Olympiatitel an. Nur durch Einführung eines ganz neuen Stils, des „Well-fed-Stils“ sei ein Einbruch in die Phalanx der GUS und Rumäniens möglich gewesen.
Freilich, vergleichbar sind Paris und Barcelona nicht: hier Show, dort olympischer und herkömmlicher Wettkampf mit Pflicht und Kür. Thomas Schreyer
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