: Opa war halt doch Nazi
Wenn die 68er-Generation ein erfolgreiches Projekt hervorgebracht hat, dann ist es die „Schwarze Reihe“. Beinahe 200 Bücher klären über die Zeit des Nationalsozialismus auf. Die Idee zu der Reihe hatte der Lektor und Historiker Walter Pehle, der vor genau 30 Jahren bei S. Fischer begann. Eine Würdigung
VON MICHAEL WILDT
Im Büro von Walter Pehle hängt eine Fotografie von Joseph Beuys mit handschriftlicher Widmung an den Lektor. Das ist kein Ausdruck von Kunstbeflissenheit, sondern kennzeichnet vielmehr die Übereinstimmung des Projekts. Wie Beuys, der forderte, dass Kunst uns alle angehe, will Pehle die Geschichte aus dem Reich akademischer Gelehrsamkeit in die politische Öffentlichkeit bringen, ohne deswegen auf Wissenschaftlichkeit zu verzichten.
Ohne Walter Pehle gäbe es die „Schwarze Reihe“ nicht. Pehle, 1941 geboren, Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie, Promotion bei Wolfgang J. Mommsen über den Aufstieg des Nationalsozialismus in Aachen und seit nunmehr genau 30 Jahren Lektor im Fischer Taschenbuch Verlag. Buchreihen schossen in den Sechzigerjahren wie Pilze aus dem Boden, man denke an die legendäre, regenbogenfarbene „edition suhrkamp“, an Wagenbachs „Rotbücher, an „rororo aktuell“ oder Rowohlts pädagogisch-politische „Balkenreihe“ mit dem Millionenbestseller über das antiautoritäre Erziehungsmodell Summerhill. Das Publikum verlangte Aufklärung, und Pehle sah die Chance für aufklärende Bücher zum Nationalsozialismus, gerade im Samuel Fischer Verlag, dessen Bücher 1933 verbrannt worden waren und der 1936 ins Exil gehen musste.
Bei der Verleihung der Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt bekannte Walter Pehle: Er gehöre zu den Jahrgängen, „deren Fragen zur jüngsten Vergangenheit sowohl von den Eltern als auch von den Lehrern nicht befriedigend beantwortet wurden. Wenn geredet wurde, dann eher über die angeblichen Errungenschaften – wie Autobahnen und Butterpreise – und allenfalls noch über den Krieg: Der Holocaust hingegen unterlag einer kollektiven Verdrängung.“ Deshalb erfand er die Schwarze Reihe. Sie steht in der „Tradition der Friedensfähigkeit, der Aufklärung und der Bereitschaft zum kritischen Diskurs“, die der Verleger Gottfried Bermann Fischer schon 1948 forderte.
Drei erfolgreiche Titel aus dem Fischer Verlag standen am Anfang der Reihe: „Das Tagebuch der Anne Frank“, Inge Scholls Bericht über „Die Weiße Rose“ und Walter Hofers Dokumentation über den „Nationalsozialismus“, die vor allem in Schulen verwendet wurde. Pehle sorgte dafür, dass 1977 die Aufzeichnungen des amerikanischen Psychologen Gustav M. Gilbert über seine Gespräche mit der in Nürnberg angeklagten Nazielite neu aufgelegt wurden. Das Taschenbuch erschien mit schwarz-weißem Umschlag, nüchterner Schrift und Dokumentarfoto – die Schwarze Reihe war geboren.
Es folgten Klassiker wie die 1947 entstandene Quellensammlung von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke über eine „Medizin ohne Menschlichkeit“ oder die beiden, zuerst im amerikanischen Exil erschienenen, luziden Analysen des NS-Regimes: „Der Doppelstaat“ von Ernst Fraenkel und „Behemoth“ von Franz Neumann. Das Glück kam hinzu. Als 1979 die ARD die Kitschserie „Holocaust“ mit einem Riesenerfolg ausstrahlte, konnte auch die Schwarze Reihe davon profitieren. Pehle produzierte rasch ein Begleitbuch zur Fernsehserie, das sich in nur drei Monaten mit rund 40.000 Exemplaren verkaufte. Gab es vorher im Buchhandel noch die üblichen Vorbehalte, dass die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ein Ende haben müsse, so war dank des kommerziellen Erfolgs der Durchbruch geschafft. Was nicht bedeutete, dass die Reihe sich nicht auch in der Folgezeit immer wieder gegen Widerstände durchsetzen musste.
Aber es fehlte noch der Eckstein, von dem aus Pehle die Reihe aufbauen wollte: Raul Hilbergs monumentale Studie „Die Ermordung der europäischen Juden“. In seinen „unerbetenen Erinnerungen“ erzählt Hilberg die mühevolle Publikationsgeschichte dieses Buchs, das, als es endlich 1961 in den USA erscheinen konnte, in Europa zunächst kaum wahrgenommen wurde. Erst 1982 unternahm der kleine linke Berliner Verlag Olle & Wolter das Wagnis einer deutschen Ausgabe – und zerbrach daran. Pehle sicherte sich die Taschenbuchrechte, Hilberg überarbeitete und erweiterte noch einmal das gesamte Werk. Im September 1990 erschien es in drei Taschenbüchern mit über 1.200 Seiten zum ungewöhnlich niedrigen Preis von 39,80 DM, der nur durch eine private Spende möglich war. Dank dieser Veröffentlichung erhielt Hilberg endlich die breite Anerkennung, die ihm 30 Jahre lang vorenthalten worden war. 2007 wird dann in der Schwarzen Reihe auch die jüngste, neu bearbeitete Ausgabe, die gerade bei Yale University Press herausgekommen ist, erscheinen.
Zugleich prägte Hilbergs konzeptioneller Ansatz, die Vernichtung der europäischen Juden als bürokratischen Prozess zu analysieren, die Schwarze Reihe. Mochten andere sich auf die Suche nach dem ungeschriebenen „Führerbefehl“ machen, Walter Pehle wollte nüchterne, quellengesättigte, an Fakten orientierte, lesbare Bücher. Immer wieder kreist die Reihe um die Frage, warum der Nationalsozialismus nicht am Rand, sondern mitten in der deutschen Gesellschaft entstehen konnte, weshalb gerade die Eliten zu Trägern des Regimes und seiner Verbrechen wurden.
Die Akzente setzten in der Schwarzen Reihe anfangs vor allem Außenseiter wie Hilberg, der in den USA lange Zeit ein Außenseiter blieb und dem kein hochrangiger Lehrstuhl an einer Ivy-League-Universität zuteil wurde. Oder Ernst Klee, ein Abiturient des zweiten Bildungswegs, der Theologie und Sozialpädagogik studiert hatte. Er machte die „Euthanasie“-Morde als ein zentrales Verbrechen des NS-Regimes kenntlich. Oder Götz Aly, mit Promotion und Habilitation durchaus akademisch arriviert. Er arbeitete viele Jahre als Journalist bei der taz und der Berliner Zeitung, während er zugleich forschte und Bücher schrieb. Aly fand in Walter Pehle einen kongenialen Lektor und in der Schwarzen Reihe einen publizistischen Rahmen, der zu seinem Erfolg beigetragen hat.
Mittlerweile zählen etablierte Universitätshistoriker zu den Autoren der Reihe, denen eine Originalveröffentlichung im Taschenbuch vor nicht allzu langer Zeit eher unseriös erschienen wäre. Auch inhaltlich hat sie sich geöffnet, vor allem durch die Unterreihe „Lebensbilder. Jüdische Erinnerungen und Zeugnisse“, die 1991 auf Initiative von Wolfgang Benz zustande kam, der das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung leitet. Hier sind Juden nicht bloße Opfer nationalsozialistischer Verfolgungs- und Vernichtungspolitik als vielmehr handelnde Subjekte. Wie Arnon Tamir. In „Eine Reise zurück“ schildert er seine Flucht aus Stuttgart nach Palästina und seinen ersten Besuch viele Jahre später in der Stadt, die einst seine Heimat war.
Die rund 200 Titel der Schwarzen Reihe sind heute eine Institution politischer Aufklärung, wie sie von jener Studentengeneration, die man im Nachhinein die 68er nennt, erträumt worden ist. Und zweifellos zählt die Schwarze Reihe zu den besten Projekten, die diese Generation verwirklicht hat.
Als einen „Sperrriegel gegen das Vergessen und Verdrängen“ hat sie Volker Ullrich in der Zeit gelobt und mit dieser Metapher vielleicht unwillkürlich auch das Statische benannt, das einer solchen Reihe droht. Denn jenes Verdrängen der Fünfziger- und Sechzigerjahre ist heute definitiv passé, auch dank der Schwarzen Reihe. Gibt es daher nicht ein quasi natürliches Ende des Projekts? Nein, sagt Walter Pehle, unter den Nationalsozialismus könne kein Schlussstrich gezogen werden. Der Rechtsextremismus zeige, dass es nach wie vor der Aufklärung bedarf.
Braucht das Licht der Aufklärung stets ein Restdunkel, das ausgeleuchtet werden muss? Offenbar droht nicht mehr die Gefahr, dass der Nationalsozialismus und die Ermordung der europäischen Juden vergessen werden. Sie sind untrennbar mit der Staatsräson der Bundesrepublik und der Erinnerungskultur Europas verbunden. Nicht die Fakten der Schoah stehen in Zweifel, die Erinnerung an sie verändert sich.
Eine Zäsur sollte dabei keinesfalls unterschätzt werden: Die letzten Überlebenden des Mordens sterben. Es werden nun jene fehlen, die den Lebenden unmittelbar Zeugnis geben können von dem Geschehen wie von ihren Erfahrungen. Die Erinnerung an die Schoah gehört jetzt allen. In diesem Moment des Umbruchs scheint es, als wolle jene Generation, deren Selbstverständnis mit dem Projekt der Aufklärung über den Nationalsozialismus so untrennbar verknüpft ist, angesichts ihres absehbaren Abschieds von der politischen und öffentlichen Macht ihr Erinnerungsprojekt buchstäblich in Stein hauen. Das Holocaust-Denkmal in Berlin kann in einer solchen Erinnerungspolitik geradezu als das herausragende Projekt dieser Generation verstanden werden.
Zum Glück ist eine Buchreihe kein Denkmal, sondern kann sich mit jedem neuen Titel weiterentwickeln. Schon jetzt finden sich dort Titel wie „Opa war kein Nazi“ von Harald Welzer über das deutsche Familiengedächtnis oder der von Christoph Cornelißen herausgegebene Band über Erinnerungskulturen in Europa.
Das Buch von Nicolas Berg über den Holocaust und die deutschen Historiker, das leider noch keinen Platz in der Schwarzen Reihe fand, ist ein Beispiel für die Zäsur des Erinnerns, die sich gegenwärtig abzeichnet. Berg beschäftigt nicht mehr das Geschehen selbst, sondern dessen wissenschaftliche Reflexion, die unterschiedlichen, dominierenden wie verdrängten und doch aufeinander bezogenen Interpretationsweisen. Eine Gedächtnisgeschichte nennt Berg sein Buch und skizziert damit eine Option der Selbstreflexion, die erinnerungspolitische Versteinerungen aufbrechen kann. Fragen nach kulturellen Kontexten, nach Diskursen, Strukturen des gesellschaftlichen Gedächtnisses, nicht zuletzt nach Bildern der Geschichte werden gegenüber der so genannten Faktenebene immer wichtiger.
Dass der Nationalsozialismus nicht nur innerhalb der deutschen Geschichte, sondern vor allem innerhalb Europas in einem veränderten Kontext steht, zeigte 2004 die heftige öffentliche Auseinandersetzung um die lettische Außenministerin Sandra Kalniete. Sie hatte ohne Hinweis auf den lettischen Anteil am Judenmord den „Nazismus und Kommunismus gleichermaßen kriminell“ genannt. Die Zeit, in der vom NS-Regime als einer „deutschen Diktatur“ (Karl Dietrich Bracher) die Rede war, ist ebenso überholt wie die intellektuelle nationale Engführung, die in den Debatten, ob die Deutschen ein Kollektiv von Opfern oder Tätern seien, zu erkennen ist. Der Mord an den europäischen Juden ist nunmehr ebenso wie die Vertreibungen und der Kommunismus Bestandteil der europäischen Erinnerung geworden.
Wo früher das Dunkel herrschte, stehen heute Spiegel, die das Licht der Aufklärung auf sich selbst zurückwerfen. Und wer annahm, der Massenmord sei ein deutsches Problem, sieht sich mit einem ganzen Jahrhundert von Genoziden, ethnischen Säuberungen und Vernichtungspolitiken konfrontiert. Die Schwarze Reihe hat alle Chancen, sich selbst zu „historisieren“ und das Wagnis neuer Perspektiven einzugehen.
Soeben erschienen in der Schwarzen Reihe: Rachel Margolis/Jim Tobias (Hg.): „Die geheimen Notizen des K. Sakowicz. Dokumente zur Judenvernichtung in Ponary 1941–1943“; Wolf Gruner: „Widerstand in der Rosenstraße. Die Fabrik-Aktion und die Verfolgung der ‚Mischehen‘ 1943“; Ernst Klee: „Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945“. Aktualisierte Ausgabe www.fischerverlage.de/page/lieferbare_titel _zeit_des_nationalsozialismus