Off-Kino : Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet
Mit „Bob le flambeur“ (Drei Uhr nachts, 1955) unternahm Jean-Pierre Melville den ersten seiner zahlreichen filmischen Ausflüge in das Unterwelt-Milieu, mit denen er später große Berühmtheit erlangen sollte. Männer mit Hut und Regenmantel, die sich nächtlichen Ritualen des Spielens, Rauchens und Trinkens hingeben; Freundschaften zwischen Gangstern und Polizisten, die – wie Melville es ausdrückte – jeweils die Kehrseite der anderen Seite darstellen; der Ehrenkodex der Gauner und ihre strikte Loyalität zu Freunden, aber auch Verrat durch Dummheit, Habsucht und Eifersucht – viele der „typischen“ Melville-Motive tauchen in „Bob le flambeur“ zum ersten Mal auf. Vor allem aber ist der Film auch eine Hommage an das Montmartre-Viertel im ersten Licht des Morgens mit seinen Bars, Zeitungskiosken und Imbissbuden, an denen sich die übernächtigten Flaneure mit dem Lebensnotwendigen versorgen. Die – nicht sehr zielstrebig erzählte – Geschichte kreist um den alternden Gangster Bob (Roger Duchesne), genannt der Spieler, der einen Überfall auf das Casino von Deauville plant, weil er sein Vermögen verspielt hat. Doch im Casino ereilt ihn ein erneuter Anfall seiner Spielsucht, er vergisst über einer Glückssträhne Ort und Zeit und versäumt, seinen Komplizen das verabredete Zeichen zum Beginn des Überfalls zu geben. Die Aktion, die mittlerweile längst der Polizei verraten wurde, misslingt deshalb kläglich: Bob wird verhaftet – doch ironischerweise tragen ihm die Casino-Bediensteten die ganz legal gewonnenen Millionen auf die Straße nach. Interessant an „Bob le flambeur“ erscheint auch die für das französische Kino jener Jahre noch sehr ungewöhnliche Rolle der Anne (Isabelle Corey): ein ganz junges Mädchen, das sich ziellos im Gangster- und Zuhältermilieu treiben lässt, bindungslos und desinteressiert mal mit dem einen, mal mit dem anderen mitgeht und auf jede konventionelle Moralvorstellung pfeift.
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Eine Disney-Konkurrenz der späten 30er-Jahre: Max und Dave Fleischers „Gulliver’s Travels“ zeigt deutlich, dass sich die Konzepte abendfüllender Zeichentrickfilme damals stark ähnelten. Im Vergleich zu heutigen Animationsfilmen besitzt „Gulliver“ viel weniger „Action“ und nimmt sich stattdessen Zeit für das Ausspielen der komischen Situationen mit tollpatschigen Spionen. Von Swifts Satire blieb dabei in dem hübschen Technicolor-Märchen allerdings nicht allzu viel übrig.
Im Jahr 1920 begab sich Robert Flaherty zur Hudson Bay, um dort einen Film über das Leben einer Inuit-Familie zu drehen. In rund zweijähriger Arbeit entstand dabei die für den Regisseur beispielhafte Dokumentation „Nanook of the North“: Wie so oft stehen auch hier Menschen im Mittelpunkt, die in einer feindlichen Umwelt zurechtkommen müssen. Allerdings ist bekannt, dass Flaherty ein wenig schummelte und seinen Protagonisten gewisse Bräuche ihrer Ahnen erst wieder beibrachte – die Jagdmethoden der Eskimos waren seinerzeit längst nicht mehr so archaisch, wie sie in „Nanook“ geschildert werden. LARS PENNING