Off-Kino : Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet
Die Geschichte der Nana: eine genaue Studie der Prostitution, eine Hommage an den Stummfilm, ein essayistischer Diskurs über das Verhältnis von Bild, Wort und Ton, ein philosophisches Traktat, eine Liebeserklärung an Anna Karina. Jean-Luc Godards „Die Geschichte der Nana S.“ ist all das und noch mehr, ein filmischer Essay, gewidmet den Filmen der „série B“. Inspiriert durch das Buch eines französischen Richters über die Prostitution, lässt sich Nanas Geschichte auch als geradliniger Abstieg lesen: Geldmangel, Rauswurf aus der Wohnung, der „erste Mann“, schließlich der Tod im Streit zwischen zwei Zuhältern. Doch Godard schafft weder eine soziale Studie, noch lädt er zum Mitleiden per Identifikation ein. Seine Kamera erzeugt Distanz, ebenso wie die sachliche Unterteilung des Films in 12 Kapitel. Alle Gesprächssituationen sind absolut ungewöhnlich inszeniert; in der Eingangssequenz blickt man minutenlang auf die Hinterköpfe von Nana und ihrem Freund Paul, die sich im Halbdunkel einer Bar unterhalten. Und Godards Bild-Text-Ton-Experimente führen den Film in filmtheoretische, letztlich auch in philosophische Bereiche. In ihrem Gespräch mit dem Philosophen Brice Parrain stellt Nana schließlich die entscheidende Frage: Kann man Gedanken und Worte gleichsetzen – ist Reden gleich Denken?Ebenfalls in der Godard-Reihe im Lichtblick-Kino zu sehen: „Deux fois cinquante ans de cinéma français“ (1995), ein ziemlich eigenwilliger Blick des Querdenkers und seiner Mitstreiterin Anne-Marie Miéville auf einhundert Jahre französische Filmgeschichte. Den runden Geburtstag des Kinos nahm Godard zum Anlass, eine Collage aus sich überlappenden Bildern, Tönen, Schriften, Musik, literarischen und filmischen Zitaten zu schaffen und dabei das Medium als solches zu hinterfragen. Michel Piccoli, seinerzeit Präsident der Vereinigung „Prémier siècle du cinéma“, geht Godards Anregungen und Theorien in kleinen Spielhandlungen nach.Aus dem gleichen Jahr stammt auch die „Sommer“-Erzählung „Conte d’été“ von Godards altem Nouvelle-vague-Kollegen Eric Rohmer, ein leichtfüßiger und von Urlaubsstimmung durchzogener Diskurs über die ideale Liebe. Gaspard (Melvil Poupaud) macht Ferien an der Atlantikküste der Bretagne und wartet auf seine Beinahe-Freundin Léna. In der Zwischenzeit lernt Gaspard die Ethnologiestudentin Margot (Amanda Langlet) kennen, mit der er auf langen Spaziergängen über Freundschaft, Liebeleien und die große Liebe diskutiert. Dabei geht es sehr Rohmer-typisch vor allem um paradoxe Prinzipien und das Problem, sich nie wirklich entscheiden zu können. Als Léna nämlich endlich aufkreuzt, könnte sich Gaspard durchaus auch eine Beziehung zur flotten Solène vorstellen, die ihm unterdessen in der Disco begegnet ist. Das selbst komponierte Seemannslied widmet Gaspard allen Mädchen, und auch den Ausflug auf die Insel Ouessant hat er gleich drei Frauen versprochen. Und weil er die offensichtlichste Lösung seines Problems verkennt, bleibt er am Ende allein … Lars Penning