■ Ökolumne: Was ist Kreativität? Von Dirk Baecker
Kreativität und Innovation sind die Schlagworte unseres globalisierungsgeplagten Landes. Aufgeregt werden die Weisen befragt, wie das denn geht, kreativ und innovativ zu sein. Doch die Weisen schweigen. Künstler und Wissenschaftler geben keine Auskunft. Sie wissen nichts über Kreativität. Sie wissen nur etwas über Arbeit.
Tatsächlich ist es der Kreativitätsforschung bis heute nicht gelungen, herauszufinden, was Kreativität ist. Deutlich ist nur geworden, daß wir im nachhinein als kreativ feiern, was in Wirklichkeit das Resultat eines langen und mühseligen, eines zufallsabhängigen und irrtumsanfälligen Anpassungsprozesses ist. Wenn wir uns also zur Kreativität auffordern, verwickeln wir uns in die Paradoxie, daß wir im vorhinein zu Taten auffordern, die man erst im nachhinein als kreativ erkennen kann.
Wenn trotzdem allerorten von Kreativität die Rede ist, dann kann damit nur gemeint sein, daß wir Einfälle und Taten vermissen, die wir im nachhinein als kreativ bezeichnen können. Wenn wir Kreativität in diesem Sinne vermissen, kann das nur bedeuten, daß wir einen großen Anpassungsbedarf sehen, der nur unzureichend wahrgenommen wird.
Diesen Anpassungsbedarf sehen wir dabei fast durchweg bei den anderen. Sie sollen das Risiko übernehmen, das mit kreativen Einfällen und Handlungen einhergeht, die sich zudem grundsätzlich als unsinnig herausstellen können. Die Rede von der Kreativität gesteht den Lernbedarf ein, setzt jedoch auf stellvertretendes Lernen, dessen unangenehme Effekte nicht bei einem selbst, sondern bei den anderen anfallen.
Zweitens fällt auf, daß das Lob der Kreativität auch und gerade dann, wenn die Kreativität von den anderen gefordert wird, nicht ohne eine Sicherheitsreserve formuliert wird. Als kreativ wird der gelobt, dem nicht nur etwas Neues einfällt, sondern der gleichzeitig fast alles beim alten beläßt. Man fordert die Innovation, nicht die Revolution. Der Kreative glänzt vor allem als Konformist. Vermutlich bewegt sich dort am wenigsten, wo das Lob der Kreativität am lautesten ist.
In der Wirtschaft spricht man von Kreativität, weil man mit dieser Vokabel neue Leistungsbereitschaften einfordern kann, ohne genau sagen zu müssen, worin die Leistungen bestehen, die man fordert. Man verspricht „Freiräume für Kreativität“ und macht damit deutlich, daß die alten Privilegien, die auf Ausbildung, Titel, Seniorität und hierarchischer Ebene beruhten, nicht unbedingt ausgespielt haben, aber doch zumindest durch kreative Leistungen neu verdient werden müssen. Wer diese Leistungen nicht erbringt, muß sich mangelnde Kreativität vorwerfen lassen und riskiert den Verlust seiner Privilegien. Das Stichwort von der Kreativität macht klar, daß das alte Spiel um Arbeitsplatz und Arbeitsplatzverlust mit neuen Regeln gespielt wird.
Auch in der Politik spricht man von Kreativität, weil man nicht mehr weiterweiß. Auch hier geht es darum, sich paradoxerweise auf kalkulierte Art und Weise mit Überraschungen zu versorgen, um das globalisierungsgeplagte Land, das alle seine Erfolge auf der Devise „Keine Experimente!“ aufgebaut hatte, mit neuen Konzepten und Rezepten zu versorgen. Auch hier dient die Kreativitätssemantik zur Andeutung einer Möglichkeit, wie die Spreu vom Weizen zu trennen ist. Bereiche, die nicht kreativ sind, müssen den Entzug von Ressourcen fürchten. Bereiche, die sich als kreativ darstellen können, können auch Ansprüche auf Ressourcen erheben.
Das Lob der Kreativität ist eine Übergangssemantik. Wir können sie in zwei Richtungen lesen. Wir können aus ihr Informationen über die Unbeweglichkeit der Verhältnisse gewinnen. Und wir können aus ihr eine Ahnung der Verhältnisse gewinnen, die uns bevorstehen. Das ändert jedoch nichts daran, um diesen Punkt zu wiederholen, daß sich diese Semantik immer an die anderen richtet, die für uns herausfinden sollen, wie weit der Übergang gediehen ist. Verbrennen sie sich die Finger, werden wir uns vornehm zurückhalten und weiterhin die Kreativität preisen. Zeigt sich jedoch, daß die Kreativen, die wir wie Pfadfinder vorausschicken, Erfolg haben, schließen wir uns ihnen an und überantworten das Lob der Kreativität den Archiven der Geschichte.
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