ORTSTERMIN: DIE TRADITIONELLE EISWETTE LÄSST BREMER SICH AM OSTERDEICH VERSAMMELN : Wenn ein Schneider Lokalheld wird
Klirrende Kälte hin, vereinzelt herumdümpelnde Eisschollen her: Natürlich ist die Weser auch diesmal nicht zugefroren. Trotzdem stehen Zuschauer dicht gedrängt auf dem Bremer Osterdeich, um dem beliebten Zeremoniell beizuwohnen. Sie sehen, wie das Präsidium der Eiswette in feinstem Zwirn zum Flussufer hinunterschreitet, gefolgt von Notar und Medicus, den Heiligen Drei Königen sowie dem – wie immer verspätet eintreffenden – Eisschneider. Die Frage, ob die Weser „geiht oder steiht“, interessiert das Publikum ohnehin nur am Rande: Der Kenner weiß, dass der Fluss kaum mehr zufrieren kann, weil sein Lauf begradigt worden ist. Seit 1947 ist es nicht mehr geschehen: Zu sehr wird die Weser von Industrieabwässern aufgeheizt, die in ihren Oberlauf fließen.
Umso gespannter erwarten die Anwesenden dagegen das traditionelle Wortgefecht zwischen Eiswetten-Präsidium und Schneider. Letzterer ist für die Eisprobe zuständig und versucht regelmäßig, sein Schicksal hinauszuzögern – mit kleinen Anekdoten zu Lokalpolitik und Weltgeschehen. An diesem Dreikönigstag hat er Probleme zwischen dem biblischen König Balthasar und dem designierten US-Präsidenten zu unterscheiden. „Yes we can!“, rufen daraufhin die Zylinderträger, als sie aufgefordert werden, Steine in die Weser zu werfen, um den Zustand der Wasseroberfläche zu prüfen.
Zu verdanken haben die Bremer dieses detailverliebte Spektakel – wie eigentlich alles andere ja auch – einem Kreis von Kaufleuten: 1828 schlossen diese Junggesellen die erste Eiswette ab. Damals war die Stadt mangels Alternativen gänzlich auf den Schiffstransport angewiesen. Ein gefrorener Fluss brachte den Warenverkehr zum erliegen – und war dementsprechend gefürchtet. So war die Wette auch der Versuch, ein günstiges Schicksal zu beschwören. Als Wetteinsatz wurde einst ein „ein vaterländischer Brauner Kohl mit Zubehör“ festgelegt. Außerdem kam die angeheiterte Männerrunde auf die Idee, die Eisfeste vom bereits erwähnten Schneider testen zu lassen: Der hatte fortan zu versuchen, die Weser trockenen Fußes zu überqueren. Dabei musste er ein Bügeleisen mit sich tragen – und exakt 99 Pfund auf die Waage bringen.
Die Tradition will es, dass der Schneider bis heute bei den alljährlichen Wiederauflagen auf die Dezimalwaage des Notars gezwungen wird. Als Aufwandsentschädigung erhält er eine Doppelmagnumflasche Eiswettkorn, und nasse Füße muss er auch nicht fürchten: Derselben Tradition gemäß wird er nämlich von einem Schiff der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger über den Fluss eskortiert. Und die Lebensretter nutzten die lokalhistorische Posse auch gestern einmal mehr für einen ganz eigenen Zweck: zum Spendensammeln. STEVEN HEIMLICH