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Archiv-Artikel

ORTSTERMIN: BEIM TRAUERMARSCH FÜR DOMENICA Das alte St. Pauli verabschiedet sich

„Sie war eine Heilige“, sagt eine tätowierte Frau mit tiefschwarz geschminkten Augen. Ob sie sie gekannt habe, wird sie von einem der Reporter gefragt. „Nein, aber sie hat ganz viel für uns getan.“ – „Für uns?“, will der Journalist wissen, „sind Sie etwa im selben Gewerbe wie die Verstorbene?“ Die Verstorbene ist Domenica Niehoff, Deutschlands bekannteste Vorkämpferin für die Rechte der Prostituierten. „Nein, bin ich nicht. Ich meine für uns hier auf St. Pauli,“ antwortet die Frau – zögert einen Moment und fügt dann hinzu: „Naja, es kommt ganz drauf an, wie viel sie bieten.“ Verschämt wenden sich die Reporter ab.

Der Trauermarsch, der zu Ehren Domenica Niehoffs stattfindet, wird der Verstorbenen in jeder Hinsicht gerecht: er ist laut, ein wenig schrullig, aber auf jeden Fall authentisch. Vor allem schafft die kleine Karawane etwas, das sonst kaum einer Demonstration gelingt. Sie zieht die Leute vom Straßenrand mit. Mit jedem Häuserblock schwillt die Menschenmasse weiter an. In der Herbertstraße, Haus Nummer 7 b, hält sie inne. „Hier, wo Domenica so viel Zeit verbracht hat, wollen wir ihrer mit einer Schweigeminute kurz gedenken“, bittet der Fotograf Günter Zint, der den Umzug organisiert hat. Und dann ist es ruhig in der Herbertstraße – ruhiger als es später in der Kirche bei der Predigt sein wird.

Eine Prostituierte steckt ihren Kopf aus einem der Fenster in den oberen Geschossen. Als ein Fotograf sein Objektiv auf die Frau richtet, wird sie von einem Mann ruckartig ins Zimmerinnere gezogen. Nach einer Weile nickt Günter Zint und der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Zint geht voran. Er trägt ein Ölgemälde, das die Verstorbene zeigt. Hinter ihm folgt die Band „Tätärä“, die jetzt „All you need is love“ von den Beatles spielt.

Eine Frau wischt sich bei den ersten Takten des Liedes eine Träne aus dem Gesicht. „Es war damals nicht immer leicht für mich“, erzählt sie. Mit ihren Kindern habe sie unten am Fischmarkt gewohnt, Domenica sei ihre Nachbarin gewesen. „Wenn ich Probleme hatte, konnte mich immer auf sie verlassen“, schluchzt sie. „Meine Kinder haben sie geliebt.“

Eine andere Frau erzählt, wie Domenica ihr geholfen hat, ihre erste Gaststätte auf dem Kiez aufzumachen. „Domenica hat damals alle Kontakte hergestellt und so“, berichtet sie. Und überhaupt kann jeder hier irgendeine kleine Geschichte über die Verstorbene erzählen. Ihre langjährige Freundin, die ehemalige Striptease-Tänzerin Helga Geiger („Dicki Dicksen“) trägt einen schwarzen Hut mit Tüll, der ihr Gesicht verdeckt. „Den hat mir Domenica geschenkt“, erklärt sie. „Ich habe ihr versprochen, ihn zu tragen, sollte sie vor mir gehen.“

Als der Trauerzug bei der Kirche am Pinasberg ankommt, schätzt ein Polizist seine Größe wohlwollend auf 750 Menschen. Zu viel für die St. Pauli Kirche, die sonst nur an Weihnachten so gut besucht ist. Sie quillt völlig über, so dass einige der Gäste vor dem Gebäude ausharren müssen. Drinnen drängen sich die Menschen um den aufgebahrten Sarg: Zuhälter wie Prostituierte, Gangster wie Polizisten. Es ist das alte St. Pauli, das sich hier versammelt hat. „In der Schanze haben sie Angst, dass die Schanze zum Kiez wird“, berichtet einer der Trauergäste, „ich sag Ihnen was: der Kiez ist schon längst zur Schanze geworden.“

Gemeint ist, dass sich der Kiez zunehmend kommerzialisiert, vom Rotlicht zum Touri-Viertel wird. Das Lebensgefühl St. Pauli sei schon lange tot, erklärt der Mann. Wenn das wahr ist, so ist es heute noch einmal auferstanden, wenn auch nur für ein paar Stunden. Es ist fast so, als würden die Trauergäste an diesem Freitag nicht nur von der verstorbenen Domenica Abschied nehmen.

JOHANN TISCHEWSKI