OBERSCHÖNEWEIDE : Willkommen im Szene-Kiez
VON HELMUT HÖGE
Landete der gewöhnliche Oberschöneweider doch mal im Ehebett statt in der Gosse, ging es der Frau, dem Kind und der Wohnungseinrichtung an den Kragen“, schrieb Karsten Otte in der BZ-Serie „Mein-Kiez-Tagebuch“, das er 2004 als Buch unter dem Titel „Schweineöde“ veröffentlichte. Der dortige, an der Verbesserung des „Images“ von Oberschöneweide interessierte Unternehmerstammtisch meinte dazu 2005 in der taz: „Alles erstunken und erlogen!“
Wahr war: In dem einst größten Industriegebiet Berlins, wo zu DDR-Zeiten über 30.000 Menschen arbeiteten, hatte die Treuhandanstalt ganze Privatisierungsarbeit geleistet. Von den sechs Großbetrieben – „Metallhütten und Halbzeugwerke“, „Institut für Nachrichtentechnik“, „Transformatorenwerk“, „Kabelwerk Oberspree“, „Werk für Fernsehelektronik“ und „Batteriewerk“ – überlebte dort an der Wilhelminenhofstraße nur das Letztere, das „BAE“. Und auch das nur, weil die Geschäftsführer ihren Laden selbst übernahmen. Sie residieren jetzt in der „Quandt-Villa“. Ihr ehemaliges Verwaltungsgebäude vermieteten sie an die Alkoholikerhilfe „Strohhalm“.
Studicafés statt rechter Arbeiterkneipen
Vis-à-vis in die „Rathenau-Villa“ zog 2003 eine Landesentwicklungsgesellschaft, um aus dem „heruntergekommenen Problemviertel“ wieder eine „Topadresse“ zu machen. Die Fachhochschule für Technik und Wirtschaft wurde zum Umzug von Karlshorst nach Oberschöneweide, in die Gebäude des Kabelwerks (KWO), bewegt – für 150 Millionen Euro. Daneben wurde eine 1945 von der SS gesprengte Fußgängerbrücke über die Spree, der Kaistersteg, wiedererrichtet. Mit dem Umzug der FHTW in den Kiez wandelten sich die zuletzt rechten Schichtarbeiterkneipen zu schicken Studentencafés.
Ein ehemaliger Ruhnke-Manager erwarb das Gelände des Transformatorenwerks (TRO) und siedelte dort Künstler an. Ihr Berufsverband bekam Ateliers. Fast alle Wohnhäuser wurden saniert. Nun heißt es in einem Faltblatt Kunst am Spreeknie: „Mittlerweile tut sich etwas. Stadtentwicklungspolitiker, Investoren, Glücksritter und Spekulanten haben ihren Fokus auf Oberschöneweide gerichtet. Die Ersten schicken Büros, Ateliers und Wohn-Lofts sind vermietet.“
Am Wochenende veranstaltete das Kiezbüro meineschoeneweide.de drei Tage der offenen Galerie-Tür. Allein das studentische Programm „Schnipseljagd“ auf dem Campus der FHTW war kaum zu schaffen. Der eingezäunte Campus befindet sich jetzt zwischen zwei Strand-Cafés, wovon eins mit einem teuer umgebauten Kran prunkt. In der Fabrikhalle des anderen Cafés – „Industriesalon“ genannt – zeigte der DDR-Menschenfotograf Georg Krause Arbeiter an ihren Maschinen in den Fabriken der Wilhelminenhofstraße – der „traurigsten Straße Berlins“, wie die BZ 2005 titelte.
Im „Atelierhaus 79“ begann eine Führung: „Vom Kabelwerk zur Denkfabrik“. In einer Ausstellung wurden Produktionsprozesse (von Elektronikröhren) aus dem Werk für Fernsehelektronik (WF) gezeigt, verbunden mit Video-Interviews von einstmals dort Beschäftigten und Exponaten aus dem früheren WF-Museum im „Behrends-Turm“: ein DDR-Mikrowellenherd, Baujahr 1963, und Störsender, um den antikommunistischen Westsender Rias vom Territorium der DDR fernzuhalten.
Künstler und Kreative ohne Ende
Vor allem erstaunte auf dem etwa zwei Kilometer langen Rundgang durch die „Kunst am Spreeknie“, wie viel Künstler und sogenannte Kreative es doch anscheinend in der Stadt geben muss, wenn jetzt schon wieder ein neuer Kiez von ihnen derart „revitalisiert“ wird. Bald gibt es nur noch Kunst-Kieze.
Der Charlottenburger Künstler Thomas Kapielski meinte einmal: „Nach Berlin zogen immer nur solche, die im Malen eine Eins und im Rechnen eine Fünf hatten.“ Hoffentlich bleibt das so! Obwohl mir manchmal doch schon ein regelrechter Kunsthass hochkommt. Und junge Frauen, die – fleischfarbene Trikots tragend – Schleiertänze in den leeren Fabrikhallen beiderseits der Spree vorführen, kann ich auch nicht mehr sehen.
Eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung von Anja Schwanhäuser über diese ganzen Kunstschwärme („Ethnographie einer Berliner Scene“) kommt allerdings zu dem Schluss, dass es sich dabei jedes Mal um ein und dieselbe Truppe handelt: „Diese Szene schweift im Stadtraum umher und funktioniert seine Leerstände zu ‚locations‘ um.“ Alles klar.