OB-Wahl Wuppertal: Der grün-schwarze Projektleiter

Uwe Schneidewind ist ein international angesehener Wissenschaftler. Nun will er Oberbürgermeister von Wuppertal werden. Warum das?

»Erzähler einer Aufbruchsgeschichte«: Uwe Schneidewind Bild: Anja Weber

Von Peter Unfried

Als Uwe Schneidewind mit seinem Buch Die große Transformation auf Tour ging, steckte da die Verdichtung von 20 Jahren intellektueller und wissenschaftlicher Arbeit drin. In den Sälen wurde der Chef des Thinktanks Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie von den Transformationsüberzeugten gefeiert, was ihn selbst auch begeisterte. Aber irgendwann dachte er: Du gibst dich hier als Weiser in der Kunst des gesellschaftlichen Wandels, aber was weißt du eigentlich wirklich über die Kräfte, die diese Transformation auf die Straße bringen oder sie verhindern?

Im April hat Schneidewind das Wuppertal-Institut verlassen. »Dieser Teil meiner Grabrede steht.«

Das ist der entscheidende Punkt, der erklärt, warum es nichts bringt, wenn Ökos seit 30 Jahren sagen, dass die »Lösungen alle da« seien und sie dann runterbeten. Sie ignorieren die gesellschaftliche Realität, die bei fehlenden demokratischen Mehrheiten anfängt und bei nicht zentral steuerbaren Systemen noch längst nicht aufhört. Will sagen: Die Lösungen sind eben nicht da, sie können erst durch einen komplexen Prozess entstehen. Und dafür muss man verschiedenste Leute und Kompetenzen gewinnen. Kommunal muss einer anfangen und das zielorientiert koordinieren. Das ist Führung.

An einem Sommertag betritt Schneidewind, 54, ein Café im Berliner Hauptbahnhof. Er ist auf dem Weg, sich das Bundesverdienstkreuz abzuholen. Es ist die Abrundung seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Das ist aber nicht der Grund, warum er ein großes Lächeln im Gesicht hat. Es ist sein Markenzeichen, dazu trägt er raspelkurze Haare.

Hier entwickelte sich Elberfeld im 19. Jahrhundert zur Metropole: Das Bügeleisenhaus in der Friedrich-Ebert-Straße, Ecke Vogelsaue, Wuppertal-Nützenberg. Bild: Anja Weber

Wuppertal wählt am 13. September

Bei der ersten Anfrage, ob er nicht bei der Wuppertaler Oberbürgermeisterwahl antreten wolle, hatte er noch dankend abgewinkt: Kommt nicht in Frage. Aber nachdem das zunehmend bohrender werdende Gefühl der Diskrepanz zwischen Reden und Machen ein Jahr in ihm herumwühlte, sagte er: Lasst uns darüber reden. Inzwischen hat er den Wahlkampf fast hinter sich. Der erste Durchgang ist am 13. September, zwei Wochen später folgt dann gegebenenfalls die Stichwahl.

Dass ein Wirtschaftswissenschaftler in hochrangiger Führungsposition Kommunalpolitiker werden will, ist allein schon eine außergewöhnliche biografische Wendung. Hinzu kommt aber noch, dass Schneidewind für die Grünen UND die CDU antritt – gegen den amtierenden Rathauschef Andreas Mucke von der SPD.

Die SPD ist in der Johannes-Rau-Stadt Wuppertal bis zu diesem Moment noch die führende Volkspartei, die mit Helge Lindh den direkt gewählten Bundestagsabgeordneten stellt, die CDU ist auch noch eine Volkspartei. »Die Stadt ist ziemlich links in der Tektonik«, sagt Lindh. Rot und auch Schwarz regierten in Wuppertal seit Ewigkeiten sozialdemokratisch vor sich hin. Aber nun trudeln beide. Die CDU sichtbarer intern zerstritten, was weniger auf inhaltliche Lager zurückgeht und mehr auf persönliche Abrechnungsbedürfnisse. Die CDU weiß, sie muss etwas tun. Sie weiß aber nicht, was und mit welchem eigenen Mann. Das könnte der Grund sein, dass man vor zwei Jahren das Schwarz-Rot im Stadtrat aufkündigte und durch Schwarz-Grün ersetzte, woraus mehr oder weniger folgte, den SPD-Oberbürgermeister mit grüner Hilfe ablösen zu wollen.

Parteien spielen geringere Rolle als Vertrauenspersonen

Die Grünen waren lange Zwerge, bis sie bei der EU-Wahl 2019 plötzlich stärkste Partei in der Stadt wurden, was mit der Baerbock/Habeck-Konjunktur zusammenhing und der rot-schwarzen Müdigkeit, aber auch den gesellschaftlichen Strukturwandel der Mittelschicht nachvollzieht.

Parteien spielen bei OB-Wahlen eine geringere Rolle, wenn ein Amtsinhaber als Vertrauensperson eingeführt ist, was in Muckes Fall eindeutig so ist. Den kennt in Wuppertal wirklich jeder. Wenn aber neue Leute das Blickfeld betreten, sind Parteien wichtig, um sie zu verorten und sich selbst in der Beziehung zu ihnen. Das alte CDU-Milieu in Nordrhein-Westfalen pflegte sich viele Jahre in Abgrenzung von Rot-Grün zu definieren, zuletzt gewann FDP-Chef Christian Lindner mit dem strategischen Ausheben eines ideologischen Grabens für Armin Laschet die Landtagswahl 2017. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Wuppertaler CDU Schneidewind zunächst einstimmig ablehnte, der eindeutig ein Grünes Parteibuch hat. Die Grüne Jugend wiederum lehnte ihn ab, weil er mit der CDU antreten wollte – sie aber auf keinen Fall. Identität und Selbstverortung wird ja deutlich stärker darüber gespürt, wer oder wie man NICHT ist. Nämlich so wie diese anderen.

Die Kritiker in beiden Parteien hat Schneidewind befriedet oder seine Gegner in der CDU wurden intern geschlagen von einer Allianz aus der Altstars Peter Jung und Hermann-Josef Richter und junger Union-Frauen. Ganz profan betrachtet, wird man in diesem Wahlkampf auch die üblichen Dinge finden, Gewurschtel, Intrigen, persönliche Abrechnungen und entscheidend die Frage, ob die Mehrheit den OB, den sie kennt und der sie kennt, eigentlich ganz okay findet.

Ein doppelter Aufbruch

Schneidewind will gleichzeitig nüchtern bleiben und auf eine höhere Ebene kommen. Und muss es vielleicht auch, um gewinnen zu können. Die Frage lautet so gesehen, und zwar über Wuppertal hinaus: Kann man eine Mehrheit für ein Modernisierungsprojekt gewinnen, das neue und alte Mitte irgendwie zusammenbringt und neu dynamisiert? Das auch sozialökologisch ist, aber nicht kategorisch darauf fokussiert, weil das nicht mehrheitsfähig wäre. Das als ein Ziel Klimaneutralität bis 2035 hat, aber keine konkreten Schritte benennt, weil die sofort Blockaden auslösen könnten. Das Wort »Projekt« ist ja inzwischen tabuisiert, aber Schneidewind spricht offensiv von einem »schwarz-grünen oder grün-schwarzen Projekt«, dessen Gesicht er sei und für das er »aus Überzeugung« steht. Angepeilt ist ein doppelter Aufbruch, einerseits der ritualisierten Konfliktlinien des letzten Jahrhunderts, andererseits eine von Bürgern gewollte und unterstützte Vorwärtsbewegung. Vulgärpsychologisch heißt es allerdings, dass »der Wuppertaler« zwar durchaus an den Zuständen leide, sich aber mit dem Selbsthadern ganz gut eingerichtet habe.

Wuppertal hat 350.000 Einwohner und liegt im Bergischen Land, eingeklemmt zwischen Köln und Düsseldorf im Südosten und der Ruhrgebiets-Metropolregion im Nordwesten. Sie gehört zu jenen Traditionsmarken, die eine große Vergangenheit haben, gegen die sich die Gegenwart bisweilen etwas klein ausmacht. Im 19. Jahrhundert war die früh industrialisierte Region mit den beiden (seit 1928 fusionierten) Großstädten Elberfeld und Barmen und ihrer Textilindustrie eines der großen Wirtschaftszentren Europas. Daraus folgte viel Reichtum und auch viel Armut, worauf ein Sohn Barmens die Wirtschaftstheorie Marxismus entwickelte: Friedrich Engels. In den letzten 50 Jahren schüttelte Globalisierung und Strukturwandel auch Wuppertal durch; die Stadt hat viel eingespart, die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa zehn Prozent, Armutsquote und private Schulden sind hoch, die Kitaquote ist niedrig. Im Städteranking 2019 des Wirtschaftsinstitutes IW Consult liegt Wuppertal im letzten Drittel der 71 deutschen Großstädte (Platz 52). Allerdings mit Zukunftspotenzial, speziell durch Wissensbranchen. Die Ingenieure von Aptiv entwickeln autonomes Fahren, Vorwerk hat den Thermomix in Wuppertal erfunden, Bayer hat noch über 3.000 Arbeitsplätze am Gründungsstandort.

Wuppertaler Traditionswahrzeichen Schwebebahn, eröffnet 1901 Bild: Anja Weber

Warum macht Schneidewind das?

Es gibt urbanes Studierenden- und Start-up-Flair im Elberfelder Luisenviertel, aber viele Leute in Barmen oder Oberbarmen haben persönlich drängendere Alltagssorgen als die sozialökologische Transformation. Kümmern ist also wichtig, aber kümmern reicht nicht. Das ist das Problem der Kümmerparteien.

Und damit nochmal zu den zwei großen Fragen: Warum macht Schneidewind das? Und: Kann er gewinnen?

Schneidewind hat große Organismen geführt, als Präsident die Uni Oldenburg mit damals mehr als 2.000 Beschäftigten, das Wuppertal Institut mit etwa 250 Leuten als Geschäftsführer. Das WI ist explizit mit der Entwicklung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse beschäftigt, es gehört zu den führenden Thinktanks der Republik und entsprechend ist die Reputation seines Chefs. Manche dachten, Schneidewind würde von dort aus in die nächste Bundesregierung wechseln.

Wuppertal aus tiefem Herzen

Ende April hat er das Institut verlassen. »Dieser Teil meiner Grabrede steht«, sagt er im Berliner Café. Insofern erzählt Schneidewind keinen Schmu, wenn er von der »innerlichen Freiheit« spricht, die er im Gegensatz zu anderen habe. Zur Wahrheit gehört auch, dass er eine Professur hat, erwachsene Kinder und eine Frau, die ihn durchfüttern könnte. Aber trotzdem: Er ist 54, er will jetzt zehn Oberbürgermeister-Jahre mit Machen verbringen oder jedenfalls mit dem Versuch. Er verstehe es auch nicht ganz, sagt ein Wegbegleiter, aber irgendwie habe der sich »in Wuppertal verguckt«. Klar, Wahlkampfton ist bei Schneidewind auch dabei, wenn er sagt, er komme zwar aus Köln und sei in der Welt gewesen, aber jetzt liebe er Wuppertal »aus tiefem Herzen«. Aber so, wie er dabei schaut, stimmt es vermutlich wirklich.

Ein geborener Wuppertaler ist er aber halt nicht, anders als der amtierende OB, auch wenn er seit Langem hier lebt. Dafür bringt er diesen Glanz herein, wenn er in den ARD-Tagesthemen die Weltlage analysiert oder regelmäßig in den Listen der wichtigsten Intellektuellen und Ökonomen auftaucht.

Von außen sieht es so aus, als seien er und sein Wahlkampfteam gar nicht wissenschaftlich-naiv unterwegs, sondern eher smart dabei, die richtigen Leute für sich zu gewinnen, die richtigen Orte zu bespielen und den richtigen Sound zu finden, der ambitioniert daherkommt, ohne abgehoben zu wirken. Er erzählt neuerdings gern, dass er eigentlich Wirtschaftsmanager werden wollte, war auch mal bei Roland Berger angestellt, die Bekämpfung der Klimakrise ist für ihn kein rigides CO2-Einsparprojekt, sondern ein dynamisches Wirtschaftsprojekt.

Hipper Stadtteil Nordstadt in Elberfeld Bild: Anja Weber

Das Risiko großer Visionen

Es wird ja gern beklagt, dass es nur noch Berufspolitiker gebe, die in der Grünen Jugend, bei den Jusos oder Judos eingestiegen seien und sich also beruflich hauptsächlich mit parteiinternen Realitäten und den notwendigen Netzwerken und Positionen für das Ergattern von Listenplätzen beschäftigt hätten. Dass die Besten sich zu fein seien für politische Ämter. Dass Quereinsteiger fehlten. Aber es gibt auch einige Beispiele, bei denen Quereinsteiger böse abgestürzt sind. Unvergessen der Steuerrechtler Paul Kirchhof, der für die Union 2005 Finanzminister werden sollte, die Betriebsregeln nicht kannte und von Bundeskanzler Schröder im Wahlkampf dermaßen populistisch auseinandergenommen wurde, dass er um ein Haar die Ära Merkel verhindert hätte.

Je größer die Visionen, desto leichter kriegt einen der Gegner dran, das ist so ein Widerspruch, mit dem man umgehen können muss. Schneidewind kriegte im Frühsommer einen Vorgeschmack, als man ihm anhängen wollte, dass er für ein Magazin der Ludwig-Erhard-Stiftung publiziert hatte. Inhaltlich interessierte weder sein Beitrag noch die Stiftung, aber der Beilagen-Herausgeber war der als AfD-nah eingeschätzte Publizist Roland Tichy. Das sollte reichen, damit Dreck an Schneidewind hängen bliebe. Tat es aber nicht.

Was Schwarz-Grün als bundesrepublikanische Regierungsoption angeht, so sprechen Sozialdemokraten oder Linke gern von einem »Schwarz-Grün-Hype«. Aber den gibt es nicht. Es gibt der-zeit eine mathematische Evidenz, aber es gibt keine schwarz-grüne Geschichte dazu. »Schwarz-Grün muss sprechfähig sein«, sagt die CDU-Politikerin Diana Kinnert, gebürtige Wuppertalerin, die deshalb mit Schneidewind zusammen in der Welt eine Art Mani-fest publiziert hat, in der beide das potenzielle Gemeinsame ausloten.

OB-Kandidat Schneidewind am zugewucherten ehemaligen Kleinen Schauspielhaus in Kluse, Elberfeld. Hier soll das Pina Bausch Zentrum entstehen. Bild: Anja Weber

Erzähler einer guten Geschichte

Der verborgene Kern von Schneidewinds Projekt, das zunächst mal ein Wahlkampfprojekt ist, dürfte der Versuch sein, schwarz-grüne oder wohl eher grün-schwarze Allianzen in beiden Kulturen erzählen zu können. Das gibt es bisher nicht oder kaum. Beide Milieus haben kulturell oder sogar identitär damit und davon gelebt, die anderen als Feinde zu betrachten und dafür entsprechende Bilder und Begriffe konserviert. Nun geht es darum, das Gemeinsame zu finden und so benennen zu können, dass beide damit leben können. Es geht also um Schlüsselprojekte und Schlüsselbegriffe, die sowohl bei den Jungideologen der Grünen Jugend als auch bei den Altideologen der Senioren-Union das Gefühl transportieren: Das sind wir.

Schneidewind sagt, er wolle der Erzähler einer »guten Geschichte« sein, einer kommunalen Aufbruchsgeschichte, die die alten Villenviertel von Elberfeld und die sozialen Brennpunkte in Barmen und Oberbarmen umfasst und zudem die Bilder schafft, um national und international sozialökologische Urbanität »selbstbewusst zu erzählen«. Allerdings: »Diese Stadt kann man nicht top-down neu erfinden«, sagt er. Dazu müsste sie reich sein.

»Schneidewind verbindet«, lautet der Wahlkampfslogan, der erst einmal banal klingt, aber viel mehr sein will als ein Slogan, nämlich eine Führungs- und Zukunftsstrategie. Wenn Uwe Schneidewind dieses Gefühl tatsächlich erzeugt, kann er gewinnen. Dann wird es interessant.

Dieser Beitrag ist in taz FUTURZWEI N°14 erschienen

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