piwik no script img

■ Nur ein ganz klein bißchen weniger Geld für kranke Beschäftigte, dafür werben Unternehmer. Überstunden sollen bei der Lohnfortzahlung nicht mehr angerechnet werden. Doch die Gewerkschaften wittern die Salamitaktik.Schnupfen und Husten -

Nur ein ganz klein bißchen weniger Geld für kranke Beschäftigte, dafür werben Unternehmer. Überstunden sollen bei der Lohnfortzahlung nicht mehr angerechnet werden. Doch die Gewerkschaften wittern die Salamitaktik.

Schnupfen und Husten – gilt nicht!

60 Milliarden Mark zahlen deutsche Unternehmen alljährlich für ihre kranken Beschäftigten. Jetzt mehren sich die Stimmen, die einen ersten Einschnitt fordern. Nach dem Vorstoß von Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) befürworten auch die CDU-Sozialausschüsse (CDA) die Idee, bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall künftig Überstunden nicht mehr mit einzubeziehen. Auch einzelne Stimmen aus der SPD und den Gewerkschaften zeigen sich in dem Punkt zumindest kompromißbereit.

„Bei der Höhe der Lohnfortzahlung gibt es durchaus Verhandlungsspielräume“, erklärte der SPD-Bundestagsabgeordnete Gerd Andres gegenüber Bild. Zuvor hatte sich der bayerische DGB-Landesvorsitzende Fritz Schösser bereit erklärt, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu überprüfen. Es wäre „sinnvoll und logisch“, wenn Überstunden nicht mehr berücksichtigt würden. Über die Frage der Anrechnung könne „geredet werden“, erklärte auch der IG-Chemie-Vorsitzende Hubertus Schmoldt in Hannover.

Nach bisher geltendem Arbeitsrecht und tarifvertraglichen Bestimmungen muß der Arbeitgeber erkrankten Arbeitnehmern sechs Wochen lang den vollen Lohn zahlen. Dabei wird in der Regel das Arbeitsentgelt der vergangenen drei Monate – manchmal auch sechs Monate – zugrunde gelegt. Die Folge: In Unternehmen mit saisonal stark schwankender Arbeitszeit verdienen Beschäftigte, die nach einer Mehrarbeitsphase krank werden, mehr als ihre Kollegen, die mit normaler Arbeitszeit weitermalochen.

„Das ist ein perverser Anreiz“, bemängelt Claus Schnabel, Tarifexperte des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW). Es sei demotivierend, wenn Beschäftigte weniger Geld verdienten als ihre Kollegen, die krank zu Hause blieben. In einigen Betrieben gebe es bereits stillschweigende Abmachungen, aus Gründen des Betriebsfriedens das Entgelt bei Krankheit ohne Berücksichtigung der zuvor geleisteten Überstunden zu bemessen, schildert Volker Hansen von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).

Würde man nur noch das tarifliche Entgelt im Falle von Krankheit zahlen, könnten die Unternehmen etwa zehn Prozent der Lohnfortzahlungskosten einsparen, rechnet Schnabel. Bei dieser Rechnung würden aber nicht nur die Überstunden, sondern es würde vor allem die häufig übliche übertarifliche Bezahlung bei der Entgeltbemessung nicht mehr berücksichtigt.

Die meisten Einzelgewerkschaften kündigten gestern heftigen Widerstand gegen Kürzungen bei der Lohnfortzahlung an. Wenn die Forderungen nicht aufhörten, drohten soziale Konflikte, „wie sie diese Republik seit langem nicht mehr erlebt hat“, wetterte der IG- Metall-Chef Klaus Zwickel in Frankfurt. Die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) versicherte ebenfalls, die Tarifregelungen zur Lohnfortzahlungen „mit Nachdruck“ verteidigen zu wollen. Schösser habe nicht im Auftrag des DGB gesprochen, so die ÖTV- Sprecherin Olga Leisinger.

Bisher hat Deutschland mit einem Krankenstand von durchschnittlich 5,5 Prozent die höchste Krankenstandsquote nach den Niederlanden. Weil die Ärzte häufig bis zum folgenden Wochenende krank schreiben, ist der Freitag der Tag mit der höchsten Fehlquote am Arbeitsplatz. Arbeitgeber behaupten deshalb oft, zum Wochenende hin würde „blaugemacht“.

In den Niederlanden wurde die Entgeltfortzahlung inzwischen reformiert: Bisher kam die Krankenkasse für einen Großteil der Kosten auf, jetzt müssen die holländischen Arbeitgeber zahlen. Mit in einzelnen Fällen vereinbarten und gesetzlich erlaubten Karenztagen und betrieblichen „Besuchsdiensten“ wurde der Krankenstand gesenkt.

Vor einigen Jahren noch hatte Schweden den höchsten Krankenstand in Europa. Anfang der 90er Jahre wurde in dem einstigen Sozial-Musterland ein Karenztag eingeführt. Am zweiten und dritten Krankheitstag bekommen die Beschäftigten nur noch 75 Prozent vom Lohn. Der Krankenstand sank in der Industrie seither von 9,3 auf 5,3 Prozent.

In Deutschland müssen Veränderungen bei der Lohnfortzahlung für 85 Prozent der Arbeitnehmer nicht nur gesetzlich, sondern auch tariflich vereinbart werden. Der Wegfall der Überstunden bei der Bemessung würde aber nur geringe Kostensenkungen verursachen. Deshalb befürchten Gewerkschafter weitere Einschnitte. Der fieseste Vorschlag wurde gestern allerdings gleich wieder vom Tisch gewischt: Nach einem internen Papier aus einer Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Fraktion sollten Arbeitnehmer künftig keine Lohnfortzahlung mehr bekommen, wenn sie ihre Arbeitsunfähigkeit selbst verschuldet haben. Als Beispiele wurden Autounfälle nach Alkoholgenuß oder Skiunfälle genannt. Dies seien lediglich „persönliche Überlegungen“ der CSU-Bundestagsabgeordneten Dagmar Wöhrl gewesen, rückte die Union zurecht. B. Dribbusch, K. Flothmann

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen