Null Bock auf Zivilgesellschaft: Immer etwas Rechtschaffenes
Die permanente Aufforderung zum Engagement hat längst die Form einer zivilgesellschaftlichen Generalmobilmachung angenommen. Eine Widerrede.
WIESBADEN taz | Es ist schon ein paar Jahre her, da begegnete ich nach Dienstschluss in der Kantine meiner damaligen Chefredakteurin. Sie war spät dran und hatte es eilig, weil sie, wie die meisten anderen Kollegen auch, auf diese große Demonstration gehen wollte.
Keine Ahnung mehr, wogegen sich die Kundgebung richten sollte. Es wird schon irgend etwas Rechtschaffenes gewesen sein, es ist immer etwas Rechtschaffenes. Wer dort war, wird sich sicher erinnern. Meine Chefredakteurin jedenfalls hielt inne und fragte konsterniert: „Wie?! Du gehst nicht demonstrieren?“
Dieser Satz und der Ton, in dem er ausgesprochen wurde, war Aufforderung und Anklage zugleich. Klar hätte ich ihr aufzählen können, wie viele Texte zum Thema ich als Redakteur in den vergangenen Wochen bestellt, bearbeitet oder selbst geschrieben hatte. Aber darum ging es gar nicht.
Hugo Hager stellt seinen Transporter mitten auf die Straße, die durch sein Dorf im Wendland führt, um gegen den Lkw-Verkehr zu protestieren. In Berlin demonstriert ein Türke seit sieben Jahren mit Rad und Tröte für sein Wahlrecht. Selbst die Wissenschaft hat den Wutbürger für sich entdeckt. Und in Baden-Württemberg ist die CDU plötzlich für Transparenz.
Ist Bürgerbeteiligung nur was für die Opposition? Wie buchstabiert sich „Partizipation“ im Alltag? „Nerven + machen“ – die taz-Serie zur guten alten Frage: Was tun?
Es ging um persönliches Engagement, und dass ich es nicht öffentlich zeigte, ging meiner Chefredakteurin nicht in den Kopf, womöglich sogar gegen den Strich. Stattdessen stotterte ich etwas von einem „Bierchen“, zu dem ich verabredet und dass ich „ziemlich fertig“ sei.
Innerer Ablasshandel per Mausklick
Dabei hat die permanente Aufforderung zum Engagement wofür oder wogegen auch immer längst die Form einer zivilgesellschaftlichen Generalmobilmachung angenommen. Allein in den vergangenen vier Wochen wurde ich aufgefordert, gegen eine finanzpolitische Maßnahme namens ESM und für die Freilassung von Pussy Riot zu sein, gegen ein Handelsabkommen namens Acta und für das Recht auf religionsbedingte Beschneidung kleiner Jungs, gegen Fluglärm und für die Homoehe, gegen und für das Existenzrecht des Staates Israel.
Nie war es leichter, sich zu engagieren – ein Mausklick genügt, schon ist mit dem Denkprozess auch ein innerer Ablasshandel abgeschlossen. Es gibt einen zornigen kleinen Aufsatz von Uwe Johnson, der in meinem Gehirn wie eine automatische Wegfahrsperre wirkt, wenn’s mal wieder zu einer Demo gehen soll.
Der Text stammt aus dem Jahr 1967, und darin heißt es, die guten Leute „sprechen zum übermenschlichen Egoismus eines Staatswesens wie zu einer Privatperson mit privaten Tugenden“, sie „essen von den Früchten, die ihre Regierungen für sie in der Politik und auf den Märkten Asiens ernten“, und letztlich stünden „die guten Leute auf dem Marktplatz und weisen auf sich hin als die besseren“.
Ich weiß, dass „Gutmensch“ ein konservativer Kampfbegriff ist, und behalte mir dennoch vor, nicht zu den „guten Leuten“ gehören zu wollen. Wer sich auf dem Marktplatz, den ihm das Schlechte zuweist, als das Gute inszeniert, der unterstützt letztlich das Schlechte, dem ja das Gute augenscheinlich als moralisches Korrektiv innewohnt.
Von Selbstgerechtigkeit gerötete Wangen
Ich will mich nicht gemein machen, auch nicht mit der guten Sache. Weil ich nicht weiß, was eine „gute Sache“ sein soll, und erhebliche Zweifel hege, dass andere Leute das besser wissen, insbesondere jene mit den Transparenten und den lauten Parolen.
Ich meide wie jeder vernünftige Mensch die Masse, und wenn sich eine Minderheit in Massen auf die Straße stellt, meide ich die Minderheit. Ich pfeife auf das möglicherweise motivierende Gemeinschaftsgefühl, mit dem die Masse ihre einzelnen Elemente entlohnt, auf die von Selbstgerechtigkeit geröteten Wangen. Nach Elias Canetti ist die Masse ein von Affekten geleitetes Gebilde, und als ihr Bestandteil verliere ich jeden Widerstand gegen das, was diese Masse unternimmt – vor allem dann, wenn es um eine vorgeblich „gute Sache“ geht.
Ob ich also gut bin, entscheidet sich allein innerhalb der beschränkten Reichweite meines privaten Handelns. Mit dieser Ohnmacht muss ich zu leben lernen, anstatt mir von der Masse einen Radius zu borgen, den ich nicht habe. Eine Trillerpfeife macht mein Anliegen nicht stichhaltiger, nur lauter.
Und Lautstärke ist kein Argument. Oder, wie Uwe Johnson in seinem Aufsatz so schön sagte: „Die guten Leute sollen das Maul halten. Sollen sie gut sein zu ihren Kindern, auch fremden, zu ihren Katzen, auch fremden; sollen sie aufhören zu reden von einem Gutsein, zu dessen Unmöglichkeit sie beitragen.“
Leser*innenkommentare
Michel D
Gast
Wer sich nicht wehrt, soll hinterher nicht klagen.
Konrad
Gast
@Manfred Schneider: Auf besagter Seite - die ich im Übrigen aufgrund konkreter Reisepläne vorher schon kannte - steht Folgendes: "Häufig wird man beim Besuch von Gedenkstätten und Statuen gebeten, sich zu verbeugen. Dies sollte man – zumindest aus Respekt – auch tun. Ebenso wird erwartet, dass man u.a. am Mansudae-Monument und bei weiteren Gelegenheiten Blumensträuße niederlegt bzw. überreicht."
Das Auswärtige Amt hingegen spricht von "obligatorischen" Blumensträußen. Alles sicher höchst freiwillig. Diese...lebensbejahende Freiwilligkeit ist schon schön. Sind solche Forenpostings der Preis dafür, dass Sie Reisen in ein Land anbieten dürfen, das nur eingeladenen Personen die Einreise gewährt?
Anonimal
Gast
Ohne die Proteste "auf der Straße" aber auch im Netz wäre ACTA, ein haarsträubendes Handelsabkommen, nicht verhindert worden. Das war definitiv eine "gute Sache".
Es steht dem Autor doch frei, zu Hause zu bleiben. Wenn wer dann böse guckt, soll er doch. Wir leben halt in einer Demo-Zeit. Das da manche Anlässe nicht ganz durchdacht sind oder Fehl am Platze kommt vor.
vic
Gast
Nie war es leichter, sich zu engagieren
Vorrausgesetzt das es von der Obrigkeit genehmigt wird. Denn wehe, sie bilden sich eine eigene Meinung oder Ansicht, die nicht dem aktuell politisch Herrschenden entspricht. In Nordkorea oder China absolut lebensgefährlich, in Deutschland immerhin noch gefährlich, sein berufliche und persöhniche Unabhängigkeit zu verlieren. Was gestern die RAF war ist heute die NPD und morgen vermutlich die christliche Gemeinde. Also Vorsicht.
Boiteltoifel
Gast
Aus dem Film "Barfly" mit Mickey Rourke:
"Das is ne Welt in der jeder irgendetwas tun muß, weißt Du, irgendjemand hat die Regel aufgestellt das jeder irgend was tun muß, jeder muß was sein, ... verstehst Du..., ein Zahnarzt, ein Segelflieger, ein Spitzel..., ein Pförtner, ein Priester, ... oder sowas...., manchmal hab ich genug davon an all das zu Danken was ich nicht machen will ..., oder das was ich nicht sein will..., all das wo ich nicht hin will wie Indien, oder meine Zähne reinigen lassen, oder Wale retten, und so..., ich versteh das alles nicht..."
flipper
Gast
"Sich nicht gemein machen" ist in dem Zusammenhang eine Absage an das Politische, die Quintessenz des Artikels heißt Rückzug ins Private "Gut zu Kindern sein", sie ist somit eine in höchstem Maße bürgerliche, um nicht zu sagen reaktionäre.
Natürlich muss man sich fragen, was das ganze Dagegensein soll, aber so kommt man zu keiner Antwort.
kleinalex
Gast
Herr Frank, Sie stellen also fest, dass es wichtiger ist, 'das Gute' zu tun als öffentlich zu zeigen, das man 'das Gute' will. Soweit, so gut. Aber, was bitte schön, ist denn dieser Text, wenn nicht 'zeigen, das Sie das Gute wollen'? Zeigen, indem Sie sagen, dass Sie zu diesem Zweck darauf verzichten, Ihr 'das Gute'-tun in Szene zu setzen - was Sie aber dann doch genau hier tun.
Vielleicht gehe ich auf Demonstrationen, vielleicht auch nicht; in einem aber bin ich mir sicher: Ich empfinde es als zutiefst unredlich anzunehmen oder gar auszusagen, alles wofür demonstriert wird, sei deswegen schon etwas 'Gutes' und jeder der demonstriert daher ein 'Guter'. Aber ich empfinde es als exakt die selbe Sache - und daher ebenso unredlich - anzunehmen oder gar auszusagen, jede Demonstration diene nur dazu, den Leuten ein Feigenblatt zu sein, und die Demonstranten würden nur demonstrieren, um sich ein solches Feigenblatt zu erarbeiten.
Herr Frank, meines Erachtens lässt Ihr Text hier in beträchtlichem Umfang gerade jenes Mindestmaß an Respekt gegenüber Ihren Mitmenschen vermissen, das jedem einfach schon für sein Mensch-Sein zuzugestehen ist.
Bitte, bleiben Sie Demonstrationen und sonstigem Engagement so fern, wie Ihre Moral es von Ihnen verlangt; andere aber zu verurteilen, gar die von diesen anderen genannten Gründe für deren Entscheidungen in Zweifel zu ziehen und nach belieben umzudeuten, bloß weil deren Wertebasis sich von der Ihrigen signifikant unterscheidet? Selbstgerecht. Auf sich selbst hinweisen als den Besseren. etc.
Ob Sie gut sind, sagen Sie, entscheidet sich allein innerhalb der beschränkten Reichweite Ihres privaten Handelns. Nun, Ihr privates Handeln ist unteranderem dieser Text von Ihnen. Lesen sie ihn noch einmal durch, und suchen nach Werturteilen über Dritte; dann fragen Sie sich: Sagt _das_ aus, dass ich 'gut' bin?
Christoph
Gast
Auch wenn der Vorbehalt gegen Inszenierungen der moralisch guten Überlegenheit angebracht ist. Diese Kritik verliert sich in ihrer Einseitigkeit. Sie ist letztlich formalistisch, ahistorisch, beliebig, apologetisch und nicht zuletzt: chick. Kritiche Kritik. Mehr nicht. Ließt sich wie ein schlecht verstandener Poststrukturalismus.