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Archiv-Artikel

Normalzeit HELMUT HÖGE über die Urbanstraßenverzweiflung

Total auf dem Holzweg

„Das Wetter spielt zwar noch mit“, sagt der Zeitungshändler in der Urbanstraße, „aber ansonsten springt einer nach dem anderen ab.“ Er meint damit die Ladenbesitzer ringsum, von denen immer mehr aufgeben. Bei zurückgehenden Einnahmen reduziert eben jeder seine Ausgaben auf das Notwendigste, entgegne ich. Das Einzige, was noch boomt, ist das Trödel- und Second-Hand-Gewerbe. Der Zeitungshändler, ein ehemaliger AEG-Schlosser, ist gleichzeitig aber auch bedrückt von den ganzen Gazetten und Boulevardblättern in seinem Laden bzw. von ihren Aufmachern: „Von den Arbeitsproblemen der Türken und Araber hier spricht keiner mehr. Da interessieren nur das Scheißkopftuch und die Selbstmordkommandos. Als wären die Frauen alle islamisch unterdrückt und die Männer alles Terroristen. Wenn das so weitergeht, kommt es hier bald zu den ersten Pogromen!“

Als ehemaliger AEGler und Gewerkschafter sieht er das Heil in der quasi natürlichen Organisierung, Disziplinierung und Bildung der Menschen durch die Industrie – aber diese ist hierzulande zu einem zivilisatorischen Auslaufmodell geworden: „Immer mehr Leute sind vereinzelt und hilflos. Selbst von den Gewerkschaften bekommen sie nur noch gesagt, dass sie sich auf eigene Füße stellen sollen. Aber wie und womit? Damit wird doch nur an die niedrigsten Raubinstinkte appelliert!“ Wir sind uns einig, dass etwas Neues an die Stelle der großen Industrie treten muss, um die Menschen wieder zusammenzubringen, damit sie gemeinsam ihre Interessen wahrnehmen können. Aber er ist völlig pessimistisch – und sieht nur, wie sich alles atomisiert und zerfällt. Dass seine Nachbarn schon morgens Sat.1 kucken und viele seiner Kunden nur noch auf einen Lottogewinn hoffen, sich ansonsten über Hollywood-Ehen und -Scheidungen informieren und den Sittenverfall bei Big Brother als Indiz für die allgemeine Verrohung nehmen.

„Ich bin an sich kein ängstlicher Mensch“, meint der Zeitungsverkäufer, „aber wenn man jetzt so durch die bereits frühabends menschenleeren Straßen Kreuzbergs und Schönebergs läuft, da kann man schon ein mulmiges Gefühl kriegen. Viele ältere Kunden sind regelrecht paranoid – weil sie nur Morde und Verbrechen in den Medien mitkriegen und in jedem Fremden gleich einen Verbrecher vermuten. Sie würden am liebsten an jeder Ecke einen Polizisten haben wollen – aber das wäre nun wirklich der endgültige Bankrott jedes Zusammenlebens. Ich sehe eher umgekehrt in jedem neuen Polizisten, der wahrscheinlich ein arbeitsloser Jugendlicher war, ein Zeichen dafür, dass wir total auf dem Holzweg sind.“

Da sind wir uns einig! Doch im Gegensatz zu ihm, dem ortsgebundenen Zeitungshändler, der schon seit sieben Jahren nicht mehr richtig rausgekommen ist – „nicht mal zur Reha, da war ich bloß in Hoppegarten“ –, sehe ich als herumstreunender Journalist auch immer mal wieder optimistisch stimmende Initiativen: zum Beispiel im Landgasthof „Maikels Taverne“, wo sich jeden Abend die Prignitzer Projektemacher treffen. Aber davon will der Zeitungshändler nichts wissen: „Projekte, wenn ich das schon hör!“

Zugeben muss er allerdings, dass immer mehr Leute sich aufs Land verpissen, weil sie hier nichts mehr verloren haben, und dort dann versuchen, irgendwas auf die Beine zu stellen, und sei es, dass sie sich bei der Hofrenovierung verausgaben und Hühner anschaffen. „Aber das ist doch keine Lösung!“, ruft er fast verzweifelt: „Erst hat uns die Industrialisierung vom Land vertrieben, und nun sickern wir nach und nach alle wieder dort ein, um noch hilfloser als unsere Großväter das Glück auf einer kleinen Scholle zu suchen.“