■ Normalzeit: Ein Treppenwitz
Neulich war ich zum Fußballspielen auf der Reichstagswiese verabredet, es kam aber niemand. Während ich noch der Frage „Was tun?“ nachhing, tauchte plötzlich eine größere Menschengruppe vor der Tür des Reichstags-Eingangs in der Clara-Zetkin-Straße auf: Betriebsräte und Kali-Kumpel aus Bischofferode. Ich gesellte mich zu ihnen, zusammen mit einem 15jährigen Fanfarenbläser aus Potsdam und dessen siebenjähriger Nichte aus Neukölln. Dann kam auch noch eine PDS-Abordnung aus Marzahn, mit bunten Trabis, zur Verstärkung an. Die Bischofferoder hatten nach einem Treffen mit dem albernen Treuhand-Bundestagsausschuß den Reichstag besetzt, woraufhin Hausherrin Rita Süssmuth sie rausgeschmissen hatte.
Die Marzahner breiteten Luftmatrazen und Decken auf der Treppe vor der Tür aus und schenkten Kaffee ein, einige Hellersdorfer hängten Transparente auf: „Die Bischofferöder sind überall“ (zuvor hatte es – voreilig – „Bischofferode ist überall“ geheißen). Die ersten Reichstags- Putzfrauen, die am Morgen kamen, waren Türkinnen. Sie stiegen fröhlich, quasi solidarisch über uns, die wir alle aneinandergekuschelt dalagen und teils schliefen, hinweg. Aber schon die nächsten – deutschen Dienstleister – muffelten über die „Schweinerei“.
Rita Süssmuth verfügte daraufhin aus Bonn die Freischauflung einer Gasse zur Eingangstür. Dazu mußten erneut zehn Polizisten anrücken, die sich um drei Uhr, nachdem wir von ihnen durchgezählt worden waren, verdrückt hatten. Um acht Uhr waren bereits 60 Polizisten vor Ort. Der Betriebsratsvorsitzende gab eine Pressekonferenz, und anschließend hielt ein bärtiger Bastor aus Bestberlin einen Gottesdienst ab, wozu ein Indienmissionar der KdA (Kirchlicher Dienst der Arbeitswelt) Gesangsbücher verteilte. Einige Marzahner PDSler weigerten sich mitzusingen, obwohl man in den Liedern statt „Herr“ nur „Stalin“ hätte einsetzen müssen, um wieder die herrlichsten Komsomolzen- Hymnen zu haben.
Danach verlangte Frau Süssmuth auch noch die Räumung der letzten zwei Stufen der Freitreppe, was die Polizisten zwar höflich, aber ruckzuck erledigten. Den Bischofferödern ließ die Bundestagspräsidentin anschließend ausrichten, sie sei trotzdem mit ihnen voll solidarisch. Was für eine Dumpftrulla!? Christine Austel-Haas, die ganz wunderbare Pastorin aus Bischofferode, startete daraufhin wütend eine Kampagne gegen die Wahl von Frau Süssmuth als Bundespräsidentin: eine solch „verlogene“ Kuh „wünschen wir uns nicht“, so gab sie zum besten.
Da die Kali-Kumpel am Nachmittag trotz alledem ganz fröhlich wieder ins Eichsfeldische zurückrauschten und eine Reichstags- Blockiererin aus Marzahn ihre nächtliche Nähe zu mir auch in den darauffolgenden Tagen und Wochen aufrechterhielt, ja ausbaute gar, möchte ich hierbei dennoch von einer „äußerst erfolgreichen Aktion“ ausgehen. Helmut Höge
Wird fortgesetzt
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