■ Normalzeit: Schlachtenbummel
Mit der S-Bahn nach Karlshorst: Ein betrunkener Binnenschiffer, der drei Menschen das Leben gerettet hat („mir kann keiner das Wasser reichen“), dann zu Fuß durch „ganz Deutschland“ gewandert ist und jetzt seine Tochter in Schöneweide besuchen will, bietet uns, ihm gegenüber sitzend, ein unappetitlich aussehendes Bier an.
Das kleine Café neben dem Karlshorster Bahnhof wirbt mit einem unaufdringlich-weinroten Schild im Schaufenster: „Investmentfonds à la carte“. Es finden dort regelmäßig Beratungsgespräche über internationale Investmentfonds statt. Wir wollen aber in das „Haus der Offiziere“, wo heute ein Disco-Abend, bis 23 Uhr und ohne Getränke und Raucherlaubnis stattfindet. Zuerst will uns der mit Orden und Schnüren behängte Wachsoldat nicht reinlassen, aber meine Begleiterin, eine stadtbekannte Investigativ-Journalistin, gibt nicht so schnell auf – und hat auch Erfolg damit.
Wir hatten gesitteten Foxtrott oder Tango Ukraina erwartet. Es ist jedoch mehr eine Offizierskinder-Popdisco. Die etwa 100 im Strobolicht Tanzenden sehe alle furchtbar jung, adrett und gutgelaunt aus. Davon können wir uns mit eigenen Augen überzeugen. Disco-Queen ist eine in schwarzen Hotpants tanzende schlanke Schwarzhaarige – Tochter eines Kulturoffiziers. (Über diese weltoffene russische Spezies veröffentlichte die Berliner Zeitschrift Initial gerade einen interessanten Aufsatz).
Der Narva-Betriebsratsvorsitzende, Michael Müller, erzählte mir einmal, daß er irgendwann eine neue Schrankwand aus Zeulenroda sich abholen mußte, aber nicht wußte, wie. In seiner Not ging er zu „den Russen“ nach Karlshorst. Dort wurde er von der Wache an eine Dolmetscherin und von der an einen Versorgungsoffizier weitergereicht. Dieser verhalf ihm dann zu einem Lastkraftwagen mit sechs Soldaten, die ihm die Schrankwand abholten und sogar bis in seine Wohnung rauftrugen – alles umsonst, nicht einmal einen Wodka nahmen sie von ihm: „Wir sind im Dienst!“
Die meisten Häuser in Karlshorst sind bereits von den Sowjets verlassen, stehen leer, hier und da rostet noch ein Umzugscontainer im Vorgarten vor sich hin. Am Museum der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg 1941-45, das demnächst leider Herr Stölzl übernehmen wird, der dann auch dort seinen postreaktionären Ausgewogenheitsquark ausbreitet, schlägt eine Nachtigall, der Flieder blüht und der Wachposten kommt langsam auf uns zugeschlendert und bittet um Feuer. Dabei wird er ganz verlegen und rot.
Ein paar Straßen weiter ist das Haus der ehemaligen chinesischen Botschaft, dort residiert jetzt ein Single-Partnertausch- Club, den ich schon immer mal recherchehalber aufsuchen wollte – der Club wirbt mit dem schönen Spruch: „Hier hat man Verständnis für Toleranz!“
Statt dessen begleite ich aber jetzt die schon erwähnte Investigativ-Journalistin, die noch – überglücklich – beim Verlassen des züchtigen Offiziersclubs (sogar auf den Toiletten standen ordensbehängte Wachen) ein Buch „Sowjetische Truppen in Deutschland – 1945 bis 1994“ an der Disco-Kasse sich gekauft hatte, mit dem sich die Rote Armee rechenschafts- und propagandamäßig aus Deutschland verabschiedet.
Besonders ein Kapitel hat es uns dann, beim Italiener um die Ecke, angetan: „Das Nebeneinander von Schöpferischem und Alltäglichem“.
Darüber hinaus hat uns der Herausgeber, Generaloberst Burlakow, ein Rätsel in dem Buch mit auf den Weg gegeben: Auf Seite 1 befindet sich ein kleines Farbphoto von winkenden Soldaten in einem Waggon, der sich von links nach rechts (in Richtung GUS?) entfernt. Zur Erinnerung: die deutsche Wehrmacht siegte auf Photos und im Film stets von links nach rechts (grundsätzlich!). Dasselbe Bild von den russischen Soldaten im Waggon gibt es auf der letzten Seite noch einmal, ganz groß, jedoch schwarzweiß; diesmal andersherum – von rechts nach links. Was will uns die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte (WGT) damit sagen? Und welches Bild ist nun richtig rum? Helmut Höge
Wird fortgesetzt
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