■ Normalzeit: Mittendrin in Berlins Mitte
In der Tucholskystraße, vor dem Gemeindehaus von Adass Jisroel, die der 68er OSI-Absolvent Mario Offenberg mit der Wende quasi aus dem Nichts schuf – eine postmoderne Als- Ob-Kreation, aus der jedoch mittels gewiefter Öffentlichkeitsarbeit eine absolut reale Gemeinde wurde ... Vor der Adass-Jisroel- Immobilie also stehen stets zwei ebenfalls echte mit Maschinenpistolen und schußsicheren Westen ausgerüstete Polizisten.
An diesem Tag nun zum ersten Mal auch eine Frau: groß, rothaarig mit goldener Brille und grünem Käppi. Ich frage sie dreist, wie ihr der Job gefällt. Sie stottert erst, redet sich dann aber warm, indem sie ihre umgehängte MPi vorm Bauch streichelt. Das ist so merkwürdig, daß ich ihr überhaupt nicht zuhöre und mich dann auch schnell verlegen verabschiede.
Ein Stück weiter, an der Frauenklinik der Humboldt-Universität, parkt direkt vorm Eingang ein riesiger rosafarbener Cadillac- Cabrio. Was mag das für ein Fahrer sein? – Und was tut er in der Gynäkologie? Pferde sind aus Chrom und Stahl gemacht, und kleine dicke Männer reiten sie! Heraus kommt dann jedoch ein großer Langhaariger. Ich meine sogar, sein Gesicht noch aus alten Yorckbrücken-Haschrebellenzeiten zu kennen.
Er erinnert mich an einen Bremer RAF-Sympathisanten, der lange Zeit einen schwarzen Cadillac-Leichenwagen fuhr und damit oft irgendwelche Transporte für uns erledigte. Seinetwegen wurden wir alle mal vom BKA in einen Hannoveraner Knast verschleppt, stritten dort aber erfolgreich ab, ihn jemals gekannt zu haben.
Auf dem August-Bebel-Platz versucht ein großer holländischer Blumen-Sattelschlepper, auf dem zugeparkten Platz zu wenden. Der Fahrer kurbelt schließlich die Scheibe herunter und fragt mich leicht verzweifelt: „Wo geht es hier zur Wilhelm-von-Pieck-Straße?“
Vor der St.-Hedwigs-Kathedrale sitzen etwa 80 Koreaner auf den Stufen: Mit Transparenten und Schildern fordern sie die Wiedereinstellung ihres katholischen Gemeindepfarrers und kritisieren den Berliner Bischof, drumherum spielen ihre Kinder. Als eine Opern-Touristengruppe sich ihnen vorsichtig von der anderen Straßenseite her nähert, fangen sie an, Choräle zu singen. Im Köpenicker Werk für Fernsehelektronik, das jetzt dem Samsung-Konzern gehört, ersetzen die koreanischen Chefs derzeit gerade auf der mittleren Leitungsebene einen Deutschen nach dem anderen durch Koreaner. Im Himmel wird also wohl dereinst die deutsch-koreanische Personalpolitik-Bilanz ziemlich ausgeglichen sein: Beruhigt schlendere ich weiter.
Im Club Spittelkolonaden, an der Leipziger Straße, einem Senioren-Center, diskutiert man gerade über Italien. Anwesend sind auch die beiden ehemaligen Generalkonsule aus Mailand (BRD und DDR). Letzterer, mit einer Ukrainerin verheiratet, erzählt mir, daß er sich demnächst mit einem GUS-Geschäft unternehmerisch betätigen wird: „Nichts Großes, aber seriös!“
In der Lindenstraße baut die Bundesdruckerei auf dem Gelände der ehemaligen Synagoge eine neue Gelddruckerei. Und schräg gegenüber – auf dem Todesstreifen – errichtet die Concordia Bau und Boden AG, ehemals eine Bergwerksgesellschaft, jetzt eine internationale Immobilienspekulanz („Developer“), eine Dienstleistungs-„Residenz“: ist das auch noch seriös?
Kreuzberg wird, so scheint es, trotz aller Zitty-Geist-Unkenrufe immer noch gerne von Touristenbussen heimgesucht. Was aber will die Berliner Firma Marcel, „Ihr Spezialist für Diabetiker- Reisen“, in der Naunynstraße? Helmut Höge
Wird fortgesetzt
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