■ Normalzeit: Dachschaden über dem Kopf
Neulich haute mich am Bahnhof Friedrichstraße ein bärtiger Bettler mit hochschwangerer Schwester im Schlepptau um eine milde Gabe an, woraufhin mein Begleiter, Peter Rambauseck, ihm riet, doch besser zu klauen. Das lehnte das arbeits- und obdachlose Pärchen jedoch ab: „Hauptsache, man bleibt ehrlich!“ Peter war entsetzt: „Was ihr jetzt macht, ist aber viel würdeloser!“ In der Regel laviert man dazwischen: die Polizisten in der Kantstraße zum Beispiel, die von polnischen und persischen Geschäftsleuten für Falschparken nur halb soviel wie verordnet kassieren, dafür aber ohne eine Quittung auszustellen. Auch mit den Abschleppdiensten und dem Tabak-Vietkong soll es ähnliche Vereinbarungen geben.
Vor einiger Zeit nahm mich beim Trampen nach Frankfurt/M ein Porschefahrer mit. Er war Architekt einer Großhandelskette und eröffnete jede Woche einen neuen Supermarkt. Seine Firma sei an einer starken Personalfluktuation interessiert, verriet er mir, weil damit die Klaurate niedrig gehalten werde: „Wenn sich ein Mitarbeiter erst mal im Betrieb auskennt, läßt er auch was mitgehen.“ Aus dem gleichen Grund müßte zum Beispiel auch die Firma NCR jedes Jahr eine neue, „noch schwerer zu überlistende“ Kasse auf den Markt bringen.
In Berlin gibt es zwei Getränke-Auslieferungsgroßbetriebe, eine mit, die andere ohne Revisoren an der Ein- und Ausgabe: Bei der einen wird zwar viel geklaut von den Auslieferern, aber das Betriebsklima ist weitaus besser, der Krankenstand niedriger und bei der anderen Firma schlagen zudem die ganzen Revisor-Gehälter und -Bearbeitungen negativ zu Buche. Das Problem stellt sich hier als moralfreies Rechenexempel. Ein Weddinger Funkgeräte-Großhändler erzählte mir, daß er es sogar begrüßt, wenn seine Mitarbeiter ihn bestehlen: „Das wirkt sich positiv auf deren Arbeitsmotivation aus.“ Nur einmal erstattete er Anzeige, als ein Techniker ihn „über Gebühr“ beklaut und anschließend das Zeug weiterverkauft hatte.
Ein ähnlicher Tatbestand liegt bei den Auslandswohnsitzen der Reichen vor. Und auch bei den Goethe-Instituten, wenn sie zum Beispiel ihren Postverkehr über Dänemark abwickeln, bei Firmen, die die polnische Post bemühen, oder bei der Elefanten Press, die ihre Werbung von Petr Sobr in Prag verschicken lassen. Das Frankfurter Amt für Wirtschaft hat eine ganze Broschüre für Exporteure gedruckt, in der aufgelistet ist, wieviel Bestechungssummen man für was in welchem Land zahlen sollte. Im übrigen sind Bestechungsgelder im Inland nach wie vor steuerabzugsfähig. Neuerdings wird jedoch die „Korruption“ von Staatsdienern beklagt und verfolgt. „Es müßte eine Übereinkunft entstehen, daß bestimmte materielle Erfolge nicht so wichtig und bestimmte Sitten um so wichtiger sind“, leitartikelt dazu das kirchliche Sonntagsblatt, was mich auf den Gedanken brachte, daß es sich bei der Korruption bloß um einen „Solidaritätszuschlag“, zum Ausgleich der gestiegenen Lebenshaltungskosten, handelt.
Es gibt zum Beispiel Polizeiränge, die eine Versetzung nach München nicht annehmen, weil die Mieten dort nicht mehr bezahlbar sind. Eine solche Situation entsteht auch in Berlin, wo jetzt schon bei jedem Kaffee die Hälfte zum Bezahlen der Kneipen-Pacht draufgeht. Das muß man sich mal vorstellen: Bei allem, was man konsumiert oder kauft, zahlt man Miete. Und das ausgerechnet in einer Gesellschaft, die lauter „Leistung muß sich lohnen“ und „Erfolgsorientierte Bezahlung“ predigt. Was leisten diese Leute, die ein Mietshaus oder derer zehn geerbt haben, die ihre Zinseinkünfte steuerabzugsfähig über Laden- und Büro-Gebäude vermehren? Dieses Wirtschaftssystem wird gerade vom Miet- und Pachtsystem ausgehebelt, und das selbst noch bei der kleinsten Dienstleistung.
Deswegen bin ich dafür, daß alle Bullen korruptive Ideen und Fähigkeiten entwickeln, dito die anderen Behörden und Institutionen. („Die P2 war ein soziales Netz“, so W. Raith.) Erst wenn Kinder nicht mal mehr gute Noten ohne massive Lehrerbestechung bekommen können („Korruption ist Kommunikation – eine rein geistige Beziehung“, sagt Flick- und Treuhanduntersucher Otto Schily), läßt sich vielleicht das Übel an der Wurzel packen: die Vergesellschaftung des im Norden für jede Lebensäußerung so wichtigen „Dach über dem Kopf“. Helmut Höge
wird fortgesetzt
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